Bei der digitalen Transformation läuft Paris Berlin den Rang ab: Einer Studie zufolge verliert Deutschland enorm an digitaler Wettbewerbsfähigkeit und auch Österreich gehört zu den Verlierern. Frankreich unter Präsident Emmanuel Macron ist dagegen der große Aufsteiger unter den sieben wichtigsten Industrienationen (G7).
Das sei das Ergebnis einer Erhebung des European Center for Digital Competitiveness der ESCP Business School Berlin, berichtet das „Handelsblatt“ am Montag.
Vor allem die politischen Einstellungen zu Unternehmensgründungen und Innovation haben sich in Deutschland deutlich verschlechtert.
Philipp Meissner, ESCP Business School
Demnach konnte sich Frankreich in den Jahren von 2017 bis 2019 um 95 Ränge verbessern und ist im Vergleich mit den anderen G7-Staaten der führende Aufsteiger. Deutschland fiel im „Digital Riser Report“ dagegen um 52 Ränge zurück. Innerhalb der G7 rutschte nur Italien noch stärker nach unten. „Vor allem die politischen Einstellungen zu Unternehmensgründungen und Innovation haben sich in Deutschland deutlich verschlechtert“, sagt der Ökonom Philipp Meissner, der die Untersuchung für die ESCP Business School geleitet hat.
Zu den sieben weltweit führenden Industrienationen zählen die USA, Japan, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Kanada und Italien.
Auch Österreich gehört zu den Verlierern
Österreich gehört dem „Digital Riser Report 2020“ zufolge ebenfalls zu den Verlierern. In der Ländergruppe Europa und Nordamerika wurden bei zehn untersuchten Kriterien zur digitalen Transformation in Summe 30 Ränge eingebüßt. Damit war die Entwicklung aber immer noch besser als in den G7-Staaten USA (minus 33 Ränge), Deutschland (minus 52) und Italien (minus 77) und auch besser als in Ländern wie Finnland (minus 41), Schweden (minus 83) und Norwegen (minus 100).
Gemessen wurden die Veränderungen der digitalen Wettbewerbsfähigkeit in den beiden Kernbereichen „Ecosystem“ und „Mindset“, die jeweils fünf Merkmale umfassen wie zum Beispiel die Möglichkeit, Talente aus dem Ausland zu gewinnen, oder die Einstellung zu unternehmerischen Risiken. Dabei haben die Forscher auch auf Daten des jährlich erscheinenden „Global Competitiveness Report“ des Weltwirtschaftsforums zurückgegriffen.
Das Ranking konzentriert sich auf die dynamischen Verschiebungen von technologisch konkurrierenden Ländern. Supermächte wie die USA landen nicht unbedingt auf den Spitzenplätzen. Tatsächlich hat Amerika 33 Ränge eingebüßt, während China um 52 zulegen konnte. G7-Länder, die sich ebenfalls verbesserten, waren Japan (plus 30) und Kanada (plus 13). Das Vereinigte Königreich hingegen verlor sechs Ränge.
Anders als in Frankreich gibt es in Deutschland keinen strategischen Plan für die Digitalisierung.
Philipp Meissner, ESCP Business School
Enttäuschendes Ergebnis für Deutschland
Besonders enttäuschend ist das Ergebnis aber für Deutschland, wo seit Jahren intensiv in Politik und Wirtschaft über die digitale Transformation diskutiert wird. „Anders als in Frankreich gibt es in Deutschland keinen strategischen Plan für die Digitalisierung“, kritisiert Meissner. Statt wirkungsvoller Leuchtturmprojekte gebe es einen Dschungel von Fördermaßnahmen. Selbst der Ende 2019 angekündigte Zukunftsfonds mit einem Volumen von zehn Milliarden Euro sei in der Schublade verschwunden.
Kanzlerin Angela Merkel hat sich 2019 nicht einmal mit Start-ups beschäftigt.
Philipp Meissner, ESCP Business School
Die größte Schwäche sieht der Wissenschaftler jedoch im fehlenden „digitalen Mindset“: „In Berlin liegt der Fokus auf Industriepolitik und deren Großprojekte wie Industrie 4.0.“ Ein digitaler Wandel finde nur innerhalb schon bestehender Industrien statt, es entstünde zu wenig Neues. „Kanzlerin Angela Merkel hat sich 2019 nicht einmal mit Start-ups beschäftigt“, moniert Meissner. In den USA seien Tesla und Google ja auch nicht dadurch entstanden, dass sich alte Unternehmen wie Ford und General Electric digital gewandelt hätten. „Das waren völlig neue Unternehmen, die es so in Deutschland nicht gibt.“ Zudem sei es in Deutschland immer noch viel zu teuer, ein neues Unternehmen zu gründen.
Vorbildliche Entwicklung in Frankreich
Für vorbildlich hält Meissner dagegen die Entwicklung in Frankreich, wo Innovationen und Hilfen für Start-ups durch die staatliche Agentur La French Tech gebündelt würden. Dort ist die Digitalisierung ein Lieblingsthema des Staatspräsidenten. Emmanuel Macron lädt jedes Jahr die Vertreter von „France Digitale“, dem Interessenverband digitaler Start-ups, und Wachstumsunternehmen in den Elysee-Palast ein. Vertreter deutscher Start-ups, die an den auf Englisch ablaufenden Diskussionen teilnehmen, sind verblüfft über die Zuwendung seitens der Exekutive. „Für uns ist das wie eine Reise in die Zukunft, durch Macrons ganze Rede zieht sich die Aussage: ,Wir vertrauen euch Unternehmern‘“, sagt Tao Tao, Mitgründer des deutschen Start-ups GetYourGuide, einer Reisebuchungsplattform.
Macron hat sich 2019 für die Gründung eines Fonds durch große institutionelle Investoren eingesetzt, der fünf Milliarden Euro Risikokapital für schnell wachsende Firmen bereitstellen soll. Doch noch ist die Sozialverwaltung URSSAF, die für Selbstständige zuständig ist, eine der größten Hindernisse für Start-ups. Sie gilt als zäh, abgeschottet, kompliziert und reaktionsfaul. Statt eine Fundamentalreform der Behörde abzuwarten, hat Macron einen speziellen Ansprechpartner für die französischen Tech-Unternehmen bei URSSAF einrichten lassen. Dort werden sie außerhalb der Routine bevorzugt bedient.
„French Tech Visa“ für ausländische IT-Experten
Marianne Tordieu von France Digitale nennt zwei Faktoren, die besonders zum Erfolg des „digitalen Ökosystems“ beigetragen hätten: vorteilhafte Regeln für die Vergabe von Aktienoptionen, mit denen Start-ups ihre Mitarbeiter an sich binden, und das „French Tech Visa“, mit dem sich Gründer, Unternehmer und ihre Mitarbeiter aus dem Ausland ohne großen Aufwand in Frankreich niederlassen können. „Dadurch zählt Frankreich weltweit zu den Ländern, die die günstigsten Bedingungen bieten, das trägt dazu bei, dass wir die besten Talente anziehen können.“
Der französische Staatssekretär für Digitalisierung, Cedric O, betont: „Wir glauben nicht, dass der Staat ex nihilo erfolgreiche Unternehmen schaffen oder durch Fusionen erzeugen kann, das ist die Aufgabe der Unternehmer, die entweder auf geeignete steuerliche, regulatorische und kulturelle Rahmenbedingungen treffen oder nicht.“ Macrons Regierung bemühe sich, die richtigen Voraussetzungen zu schaffen. Doch noch gibt es große Schwachstellen.
Einer Untersuchung des Europäischen Rechnungshofs zufolge landet Frankreich etwa auf dem vorletzten Platz aller EU-Länder, wenn es um die Abdeckung des Territoriums mit schnellem Internet geht. Die „Start-up-Nation“, von der Macron schwärmt, ist also noch längst nicht Realität.
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