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„Wir waren naiv“: Die Kehrseiten sozialer Medien

Digital
06.11.2020 12:17

Am 9. September veröffentlichte Netflix die Doku „The Social Dilemma“ („Das Dilemma mit den Sozialen Medien“). Darin holt der 36-jährige US-Regisseur Jeff Orlowski ehemalige Mitarbeiter von Plattformriesen wie Facebook, Google oder Pinterest vor die Kamera. Angesichts der Rolle Sozialer Medien in der Radikalisierung von Menschen und in Bezug auf die Verbreitung von Propaganda ein mehr als aktueller Beitrag.

„Wir waren naiv, was die Kehrseite der Medaille betrifft“, sagt etwa Tim Kendall, der Mitte der 2000er Jahre bei Facebook in der Führungsetage gearbeitet hat und später zu Pinterest wechselte. So habe man zu Beginn das Gute im Fokus gehabt: „Menschen haben verschollen geglaubte Familienmitglieder gefunden, andere den perfekten Organspender“, erinnert er sich an die Anfangseuphorie rund um das soziale Netzwerk, bevor Werbeerlöse im Zusammenspiel mit Algorithmen zu einer gefährlichen Trendwende geführt hätten. Neben Interviews mit ehemaligen Mitarbeitern, die sich nunmehr der Aufklärung verschrieben haben, hat Regisseur Orlowski eine parallel geführte fiktionale Ebene eingeführt, in der er die Mitglieder einer Familie zeigt, die sich durch das exzessive Nützen ihrer Smartphones immer mehr abkapseln und schließlich in Filterblasen gelangen, die sie auch im realen Leben in Gefahr bringen.

Doku zeigt die negativen Effekte sozialer Medien
Und so erfahren die Zuschauer, dass nicht nur Gesichtsoperationen bei jungen Frauen gestiegen sind, um mehr ihren durch Filter verschönerten Gesichtern auf Snapchat zu gleichen, sondern durch Mobbing via Messengerdiensten auch Depressionen sowie die Selbstmordrate unter US-Jugendlichen seit Beginn der 2010er massiv angestiegen sind. 

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Der Algorithmus zeigt dir immer mehr von dem, was du dir ansiehst und zieht dich immer weiter in den Kaninchenbau.

Zitat aus "The Social Dilemma"

Aber auch politische Implikationen thematisiert „The Social Dilemma“: So bringe die ständige Überwachung jedes einzelnen Klicks nicht nur maßgeschneiderte Werbung (und damit neu generierte Bedürfnisse) hervor, sondern dränge Menschen jeden Alters zusehends in Online-Communitys, die gemeinsame politische Ziele verfolgen. „Der Algorithmus zeigt dir immer mehr von dem, was du dir ansiehst und zieht dich immer weiter in den Kaninchenbau“, heißt es an einer Stelle.

Propaganda verbreitet sich schneller als echte News
Daher seien Soziale Medien auch ein fruchtbarer Nährboden für Fake News, die sich laut einer Studie der MIT in Boston sechsmal schneller verbreiten würden als „echte Nachrichten“ - ein klarer Wettbewerbsnachteil für klassische Medien. Bekannt ist auch, dass vor allem der „Islamische Staat“ seine Mitglieder oft über Soziale Netzwerke ködert und ihnen auf sämtlichen Plattformen ein besseres Leben vorgaukelt, wenn sie sich dem Netzwerk anschließen.

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Zwei Milliarden Menschen haben Gedanken, die nicht ihre eigenen sind. Nur weil jemand entscheidet, wie Emails auszusehen haben.

Tristan Harris, früher Designethiker bei Google

Dass die Bedenken von Mitarbeitern in der Entwicklung oft nicht Gehör finden, beschreibt etwa Tristan Harris, früher Designethiker bei Google. Er wollte darüber nachdenken, wie man das Suchtpotenzial des damals entwickelten „Gmail“-Programms verringern könne. Stattdessen ging es in weiterer Folge um einen Wettbewerb um Aufmerksamkeit. „Zwei Milliarden Menschen haben Gedanken, die nicht ihre eigenen sind. Nur weil jemand entscheidet, wie Emails auszusehen haben“, resümiert Harris.

Silicon-Valley-Firmen „verkaufen ihre User“
Tim Kendall war früher in der Führungsetage bei Facebook und entwickelte im Jahr 2006 das Geschäftsmodell des Konzerns - durch auf die Interessen der User zugeschnittene Werbung. „Seit zehn Jahren verkaufen die Unternehmen in Silicon Valley nur mehr ihre User“, erzählt ein ehemaliger Facebook-Investor. Aza Raskin, früher bei Firefox und Mozilla Labs und Mitbegründer des „Center for Humane Technology“, fasst zusammen: „Die Werber sind die Kunden, wir sind das, was verkauft wird.“ Es sei das Geschäftsmodell von Facebook, Google und Co., „uns an die Bildschirme zu fesseln“. Dies geschehe etwa durch Push-Benachrichtigungen, Emojis oder die berühmten drei Punkte, wenn jemand im Chat dabei ist, zurückzuschreiben.

(Bild: stock.adobe.com)

Das alles setze Dopamin frei, Menschen würden sich in einer ständigen Belohnungsspirale befinden. Das führe zu einer „falschen, brüchigen Popularität“. Social Media fungiere heutzutage „als digitaler Schnuller“. Und so tummeln sich Klimaleugner, Coronaskeptiker und Sympathisanten radikaler Bewegungen in ihren eigenen Bubbles, die für Menschen mit anderen Interessen überhaupt nicht mehr sichtbar seien. Schließlich seien Algorithmen „Meinungen, die in einen Code eingebettet sind“. Je nachdem, wer an den Schalthebeln sitze, könne sich diesen Umstand zunutze machen. „Stellen Sie sich vor, sie schauen auf Wikipedia und sehen etwas komplett anderes, als ihre Freunde“, versucht ein Aktivist an einer Stelle die Inhalte in Timelines Sozialer Netzwerke zu beschreiben. So seien Algorithmen für die Polarisierung von Gesellschaften verantwortlich. Dass diese Polarisierung auch offline weitergeht, arbeitet Cynthia M. Wong von Human Rights Watch heraus: „Das führt offline oft zu wirklichen Schäden, weil die öffentliche Meinung manipuliert wird“, nimmt sie Bezug auf zahlreiche Protestbewegungen von Frankreich bis Myanmar. Das Fazit nach 90 Minuten? „Die Demokratie erlebt eine Vertrauenskrise. Wir brauchen wieder ein gemeinsames Verständnis von Realität.“

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