„Krone“-Interview

Tichanowskaja: Weißrussland ist ihr Schicksal

Ausland
06.11.2020 13:50

Hunderttausende folgen ihr, der weißrussische Diktator Alexander Lukaschenko fürchtet sie. Deswegen musste Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja ihr Land verlassen. Bevor sie Bundeskanzler Sebastian Kurz traf, sprach sie in Wien mit der „Krone“ über die Revolution, Ängste und dass Weißrussland ihr Schicksal ist.

„Krone“: Österreich war das erste EU-Mitglied, dass Alexander Lukaschenko zu einem offiziellen Staatsbesuch eingeladen hat, der 2019 auch stattgefunden hat. Was denken Sie darüber?
Swetlana Tichanowskaja: Zu diesem Zeitpunkt habe ich die Reisen von Präsident Lukaschenko nicht mitverfolgt. Aber was ich weiß ist, dass Österreich immer eine eher freundschaftliche Beziehung zu Präsident Lukaschenko pflegte, daher schätzen wir jetzt wirklich die starke Haltung gegenüber dem Regime. Österreich war unter den ersten Ländern, die die Sanktionen gegen Lukaschenko unterstützt haben. Das heißt, dass Menschenrechte wichtiger sind als seine freundschaftliche Beziehung.

Die EU bringt nun Sanktionen gegen Lukaschenko auf den Weg. Was erhoffen Sie sich davon?
Wir verstehen das eher als Symbolwirkung. Die EU schaut auf das Land und sagt: Es gefällt uns nicht, was hier passiert.

Können Sie sich einen EU-Beitritt von Belarus vorstellen? Ihre Verbindungen zu Russland sind sehr stark.
Darum kümmern wir uns jetzt nicht. Ich persönlich kann es mir vorstellen. Aber vielleicht andere Menschen in Belarus nicht. Es kann nur das Volk entscheiden, ob sie das wollen würden, oder eine nähere Anbindung an Russland.Sie sind unsere Nachbarn, das russische Volk ist unser Freund. Wir wollen auch diese Partnerschaften mit anderen Ländern.

Wie haben Sie die letzten Monate erlebt?
Belarus (Weißrussland; Anm.) hat sich verändert und das erste Mal in der Geschichte eines freien Belarus sind die Menschen stolz auf ihr Land. Die ganze Welt sieht auf uns, spricht über uns. Die Weißrussen selbst waren überrascht, wozu sie fähig sind, dass sie bereit zur Veränderung sind. Fast 90 Tage treten sie nun für ihre Rechte und für ihre Zukunft ein. Es Selbstbewusstsein wurde immens gestärkt.

Nach dem Ende der Sowjetunion hat sich in Belarus keine nationale Identität entwickelt, da es keine Revolution von unten, also vom Volk aus, gab, wie in den anderen Ex-Sowjetstaaten. Belarus war ein Industriestaat unter den Sowjets und es ging den Menschen vergleichsweise gut. Jetzt gehen 100.000 Menschen auf die Straße. Ist das nun die Revolution, die man vor 30 Jahren versäumt hat, die eine nationale Identität stiftet?
Die Menschen bilden nun eine Einheit und beginnen mit dem Aufbau ihres eigenen Landes. Fast alle Post-Sowjet-Länder hatten ihre Revolution. Wir haben diese Zeit verpasst, aber jetzt sind wir an der Reihe. Wir Weißrussen sind selbst dafür verantwortlich. Ja, unsere Selbstidentität, die belarussische Identität, ich denke, sie war immer da. Sie hat nur bis jetzt geschlafen. Wir konnten unsere Sprache retten, auch wenn wir sie nicht überall sprechen konnten. Jetzt schon. Wir werden unsere Kultur und unsere Identität weiterentwickeln.

Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja (Bild: Associated Press)
Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja

Vor ein paar Jahren nannten Diplomaten Belarus eine Art „Vorzeigeland“ im ehemaligen Ostblock. Man hatte Zugang zu Schule, Universitäten, das soziale Leben war unbeeinträchtigt. Das Gesundheits- und Pensionssystem funktionierte und die Löhne wurden pünktlich bezahlt. Manche sagen, hier war die Perestroika, wie sie sich Michail Gorbatschow vorstellte, erfolgreich. Andere nannten Belarus eine „vom Volk akzeptierte Diktatur“. Die regimekritische Schriftstellerin Swetlana Alexeiwitsch schrieb: Lukaschenko ist ein Diktator, der sich am kleinen Mann orientiert, der Häuser und Schulen baut, und die Sicherheit garantiert - aber der Preis dafür ist unsere Freiheit. Was hat sich nun verändert?

Es gab viele Momente, die diese Revolution beeinflusst haben: Es ist eine neue Generation von Menschen da. Unsere Eltern wollten nach der Sowjetunion nur keinen Krieg. Wir lebten einfach so wie wir gelebt haben. Unsere Eltern konnten und wollen nicht viel reisen. Jetzt ist das Internet da und die Menschen können sehen, was in anderen Ländern vor sich geht, die Menschen können im Ausland studieren und sie sehen, dass die Menschen in anderen Ländern respektiert werden. Dass die Meinungen der Menschen den Regierungen etwas bedeutet. Im Vergleich zu unserem Land ist es offensichtlich, dass wir wie Sklaven sind. Niemand hört uns zu. Covid zeigte das deutlich. Man hat den Menschen überhaupt nicht geholfen. Sie haben den Ärzten nicht geholfen. Das hat die Respektlosigkeit gegenüber anderen Menschen gezeigt. Ich bin mir zum Beispiel sicher, dass Sergej Tichanowski, mein Mann, ein Auslöser war, er spielte in diesem Moment eine große Rolle. Weil er angefangen hat, die Leute zu fragen, wie sie leben wie es ihnen geht, was ihre Meinung ist. Und die Menschen haben seinen Mut gesehen. Wir haben das Recht auf Stimme, das Recht zu sprechen. Als der Wahlkampf begann und die Menschen sahen, wie brutall das Regime war, verstanden sie, dass etwas geändert werden muss. Dann haben sich die drei großen drei Bewegungen (Tichonowskaja, Babariko, Zepkalo. Anm.) vereint zu einem großen Meer an Menschen. Es gab uns diesen Schub. Wir fühlten, dass wir eine Nation sind, wir fühlten, dass wir damit nicht mehr alleinstehen. Es ist nicht sofort passiert. Es hat viel Zeit gekostet, bis wir zu diesem Moment gekommen sind.

Frauen sind das Rückgrat des Widerstands in einem Land, in dem das Patriarchat vorherrscht. Die Menschen haben sich hinter ihrem Charisma und dem ihrer Mitstreiterinnen versammelt. Wie haben Sie das gemacht, sie waren davor nicht politisch aktiv?
Mein Mann hat den YouTube-Kanal gestartet, er war der Politiker. Ich folgte ihm und machte mir Sorgen um ihn. Ich wollte auch keine Interviews geben. Es ist wie mein Schicksal, dass ich hier bin. Alles, was in Belarus in diesem Jahr geschah, war Schicksal. Auch für die Weißrussen selbst war das unerwartet.

Sie sagten auch einmal, sie hätten Anfangs viel Angst gehabt. Wie haben Sie diese überwunden?
Ich habe die Angst überwunden, indem ich die Leute angesehen habe. Es gab viele Male, in denen ich sicher war, dass ich aufgeben würde. Ich konnte es nicht mehr tun. Aber ich habe meine Leute angeschaut, ich habe ihren Willen gesehen, dass sie wirklich an mich glauben. Und vor allem aneinander glauben. Also wurde mir klar, dass ich ihre Überzeugungen und ihr Vertrauen nicht verraten kann.

Ihr Ehemann und auch Ihre Mitstreiterin Maria Kolesnikowa sitzen im Gefängnis. Wissen Sie, wie es Ihnen geht?
Wir dürfen keinen persönlichen Kontakt haben oder telefonieren, aber wir haben Kontakt über unsere Anwälte, die sie zweimal pro Woche besuchen und wir Neuigkeiten austauschen. Also kontaktiere ich sie doch irgendwie.

Sie sagten kürzlich in einem Interview, sie wollen nicht Präsidentin sein. Warum nicht? Und wer sollte es sonst sein?
Wir haben viele starke Leute, die einen guten Präsidenten abgeben würden. In naher Zukunft wird es einen geben. Ich kann für Weißrussland nützlich sein, aber nicht als Präsident, nicht in der Politik. Ich denke jetzt nicht darüber nach.

Sie wollen nicht Präsidentin sein. Warum nicht? Und wer sonst?
Wir haben viele Leute, die einen guten Präsidenten abgeben würden. Ich kann für Belarus nützlich sein, aber nicht in der Politik.

Sollte Lukaschenko gestürzt werden, welches Schicksal wird ihn ereilen?
Mit dieser Frage wird sich das belarussische Volk beschäftigen.

Clemens Zavarsky, Kronen Zeitung

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