Es ist schwierig bei der unendlichen Fülle an Alben aus allen verschiedenen Genres die großen Favoriten zu küren - wir haben es dennoch wieder versucht und uns für die zehn (+ fünf) besten Alben des Jahres 2020 entschieden. Natürlich streng subjektiv und alphabetisch geordnet. Welche Werke sind Ihre Favoriten?
Fleet Foxes - Shore
Wie hätte man den Herbst besser einleiten können als mit einem neuen Album der Fleet Foxes? Das US-Kollektiv rund um Frontmann Robin Pecknold ist bekannt dafür, die perfekten Soundtracks für Natur-, Beziehungs- und Daseinserlebnisse im Alltag zu liefern. Unaufdringlich, schön und fast schon zierlich musiziert sich die Band durch eine knappe Stunde Art-Pop, Barock- und Folk-Preziosen auf dem spontan und unangekündigt veröffentlichten Rundling "Shore", der die Truppe einmal mehr von einer besonders entspannten Schönheit zeigt. Wesentlich zugänglicher als auf dem Vorgänger "Crack-Up" sind Songs und Herangehensweise an ebenjene. Man möchte am liebsten den nächsten Baum umarmen oder das bunte Laub in die Luft werfen, wenn man sich von luftigen Tracks wie "Featherweight" oder "Going-To-The-Sun Road" in fantastische Welten entführen lässt. Ein Album, wie ein aus der Zeit gefallener Bilderrahmen. Wunderschön.
Marcus King - El Dorado
Das Jahr war noch jung, Corona nur ein Schreckgespenst aus dem fernen China - wer konnte in diesem letzten Jänner der Unschuld denn schon ahnen, was uns noch alles blühen würde? Marcus King hat auf seinem Solodebüt jedenfalls die perfekte Mischung aus Southern Rock, Alternative Country, R&B und sehr viel Soul gefunden. Mit einer Stimme direkt aus dem Himmel der sieben Geigen macht “El Dorado“ auch nicht vor 70er-Jahre-Motown-Einflüssen oder Gospelchören Halt und betörte schon früh in diesem geplagen Annual mit einer akustischen Strahlkraft, die noch lange seinesgleichen suchen würde. Selbst konziliante Legenden wie John Fogerty oder Townes Van Zandt müssten sich hier respektvoll verneigen. So muss inklusiver und verbindender Americana klingen. Musik, für die Ewigkeit geschnitzt.
Mark Lanegan - Straight Songs Of Sorrow
Er war schon immer der dunkle Poet des Grunge, der Leonard Cohen der Seattle-Szene. Mit 55 veröffentlichte der einstige Screaming Trees-Frontmann Mark Lanegan seine Autobiografie und das Album "Straight Songs Of Sorrow". Zwischen hemdsärmeligem Grunge und elektronischen Versatzstücken ist Platz für alles. Eine Lebensbeichte, die aufwühlt und schmerzt. Weltschmerz, neblige Atmosphäre, der angesetzte Staub der Vergangenheit und die Demut ob richtiger und falscher Lebensentscheidungen - hier hat Lanegan einfach alles versammelt. Und zeigt am Ende doch die Reife, die ihm besser zu Gesicht steht, als das grummelnde Granteln, das ihn zeit seines Lebens begleitet.
Dua Lipa - Future Nostalgia
Leichtfüßiger, tanzbarer und durch und durch hittauglicher Pop, gepaart mit einer kräftigen Dosis Lebensfreude. Die wohl ideale Gute-Laune-Impfung, bevor eine hoffentlich wirklich wirksame dem COVID-19 früher oder später den Gar aus macht. „Future Nostalgia“ krachte inmitten des ersten Lockdowns und war neben dem traditionellen 18-Uhr-Fensterklatschen für die unbelohnten Helden des Alltags so etwas wie die ultimativ-temporäre Gute-Laune-Garantie. Wie schon der Titel andeutet, vermischen sich auf dem Album Erinnerungen an die ungezwungene Jugend mit Erfolgen der Gegenwart und Träumen als auch Sorgen der Zukunft. Verpackt ist das Ganze vorwiegend in einem herrlich retrograden 80s-Disco-Sound, der immer wieder die Liebe zu Prince, Michael Jackson und vor allem Madonna aufblitzen lässt. Let‘s get physical!
Róisín Murphy - Róisín Machine
Pop-Gourmets wissen: Der Irin Róisín Murphy wurde nie der Ruhm zuteil, den sie verdient hätte. Die einstige Moloko-Hälfte meldete sich mit "Róisín Machine" eindrucksvoll zurück und ließ damit die Sheffield-Clubbing-Szene wieder aufleben. Eine echte House-Platte sollte das Album werden, und weil Murphy lange kein Label fand, dass es vermarkten wollte, hat sie eben den unpopuläreren, aber besseren Weg gewählt: die Songs nicht so umgeformt, dass sie gemocht werden, sondern einfach so lange gewartet, bis doch wer anbiss. Wo sich große Popstars der Gegenwart am Erbe von Madonna reiben und dann doch immer kläglich scheitern, geht Murphy stilvoll in den Underground. Wer war nochmal Kylie Minogue?
Pauls Jets - Highlights zum Einschlafen
Nach dem gefeierten Debütalbum "Alle Songs bisher" legten die Wiener Pauls Jets im Frühling mit "Highlights zum Einschlafen" nach. Vom Biedersein sind die Songs auf dem wundervollen Werk weit entfernt. Es geht um Schlaf, Betten, Liebe, Sex und das Alleinsein. Um das Zwischenmenschliche und Echte, um Persönliches und Fiktionales. Ein nicht zu fassendes Gebräu aus Themen, Stichwörtern und Ideen, zusammengemixt in ein Indie-Rock-Kostüm, dass Frontmann Paul Buschnegg trotz aller Melodieverliebtheit nicht beim Pop verortet sehen möchte. Auf dem zweiten Album beweisen Pauls Jets jedenfalls eindrucksvoll, dass sie noch sehr viel zu sagen haben und nichts von ihrem kompositorischen Feuer verloren haben. Das einheimische Highlight 2020!
Run The Jewels - RTJ 4
Musikalisch mag sich "RTJ4" vielleicht nicht wirklich eklatant vom grandiosen Vorgänger abheben, inhaltlich haben Killer Mike und El-P den gegenwärtigen Gesellschaftsteufel bei den Hörnern gepackt, um aufmerksamen Hörern einen profunden Einblick in das Wesen und die Abscheulichkeit des modernen Amerikas zu geben. Aufgrund der „Black Lives Matter“-Demonstrationen haben die beiden sozialkritischen Vollblutmusiker die Veröffentlichung des Albums sogar um ein paar Tage nach vor gezogen, um damit ein klares Statement zu setzen. Wie prophetisch Run The Jewels tatsächlich sind, zeigt sich mitunter im Text zum Track "Walking In The Snow", in dem Killer Mike den dramatischen Tod George Floyds fast deckungsgleich vorhersah. Selten zuvor hat eine Band mit einer Veröffentlichung so den Zeitgeist getroffen.
Rina Sawayama - Sawayama
Wie spannend die moderne Popwelt sein kann, zeigen uns seit geraumer Zeit fast ausschließlich Frauen. In diese illustre Riege reiht sich nun auch problemlos und leichtfüßig die aus Japan stammende Britin Rina Sawayama. Sie revolutioniert Pop auf ihrem Debüt "Sawayama" nämlich gleich mit größtmöglicher Anarchie und vermischt alle möglichen anderen Musikstile mit einer derartigen Selbstsicherheit rein, als hätte das nie anders gehört. So verquickt sie in ihrer ersten Single "STFU!" Nu-Metal-Elemente (!), greift in "XS" auf Hair Metal zurück, gleitet auf "Commes Des Garcones" auf einer House-Welle, nur um dann bei den Rahmensongs auf elektronisch verstärkten R&B mit Mainstreampop-Appeal zu setzen. Die Tour im Vorprogramm von Charli XCX hat die 30-Jährige auch schon breitflächiger bekannt gemacht. Auf dem über viele Jahre ausgearbeiteten Debüt verarbeitet Sawayama ihre nicht immer einfache Lebensgeschichte und die Unterschiede ihrer asiatischen und europäischen "Lebenshälften". In mehrfacher Hinsicht beeindruckend.
Sevdaliza - Shabrang
“Shabrang“ bedeutet auf Deutsch „nachtfarben“ und genau in diese Kerbe schlägt auch das Songmaterial der niederländischen Sängerin, die auf ihrem Zweitwerk mit beeindruckendem Können und Selbstbewusstsein die Grenzen von Dunkelheit im Pop erweitert. Schon das mutige Coverartwork mit dem blauen Auge zeigt vor: hier werden keine halben Sachen gemacht. So sinniert Sevdaliza über all die Ups and Downs der letzten Jahre und schon inhaltlich weder sich noch den geneigten Hörer. In 15 oft sehr sphärischen und elektronisch aufgeladenen Songs singt sie über die die physischen und psychischen Schmerzen ihrer Existenz und öffnet das Fenster zu ihrem Seelenleben weiter als es so manche Künstlerin wagen würde. All das passiert irgendwo zwischen 90er-Industrial-Pop, Trip-Hop, Elektronik und flächenbündigem Gothic-Chic. Ein Filetstück für Connaisseure.
Taylor Swift - Folklore / Evermore
Gleich zweimal überraschte die „Queen Of Pop“ ihre Fans in diesem eher nüchternen Jahr mit Über-Nacht-Veröffentlichungen. Mitten im Hochsommer mit dem temporären Gefühl der (Corona)Freiheit erschien ihr Herbstalbum „Folklore“, kurz vor Weihnachten legte sie mit „Evermore“ den zweiten Teil ihrer ausladenden Songwriting-Sessions mit The Nationals Aaron Dessner und Justin Vernon/Bon Iver nach. Nach Country und Bubblegum-Pop brilliert Taylor auch im atmosphärischen Indie-Folk leichtfüßig und bravourös. Zwischen entrückten Hymnen und Lagefeuer-Feeling hat man zu keiner Zeit das Gefühl, hier würde jemand aus Kalkül musizieren. Taylor Swift erreicht mit dem Doppelpack nicht nur kommerziell neue Höhen, sondern beweist auch künstlerisch, dass sie ihrer direkten Konkurrenz mit Siebenmeilenstiefeln davongerannt ist. Das muss 2021 erst einmal übertroffen werden.
Nun ja, zehn Alben sind gut, 15 aber noch besser. Hier haben wir für Sie noch weitere fünf Werke, die uns nachhaltig positiv im Gedächtnis geblieben sind:
Benediction - Scriptures
Hach ist das schön, wenn man alte Helden plötzlich wieder in alter Form begrüßen darf. Die britische Death-Metal-Walze Benediction zählte zwar niemals zur ersten Genre-Liga, hat aber mit Frontmann Dave Ingram ein paar der wichtigsten Szene-Alben der 90er veröffentlicht. Ebenjener ist nach genau zwei Dekaden Abwesenheit letztes Jahr wieder in den Schoß seiner alten Heimat zurückgekehrt und hat mit ihnen "Scriptures", das erste Studioalbum seit unglaublichen zwölf Jahren eingeholzt. Vom unwiderstehlichen Groove in "Stormcrow" über den schwedisch angelehnten Uffta-Beat in "Progenitors Of A New Paradigm" bis hin zu fein eingestreuten Old-School-Punk-Einflüssen und dem wuchtigen "The Crooked Man" schöpfen sie aus dem Vollen der eigenen Vergangenheit. So ein Album mit alten Meisterwerken in Relation zu setzen ist immer gefährlich, aber so frisch klangen die alten Herren aus Birmingham in diesem Jahrtausend noch nie. Gelungen!
Laura Marling - Song For Our Daughter
Sehr früh wurde Laura Marling vor gut zwölf Jahren ins Musikbusiness katapultiert, mit Grammy-Nominierungen und Brit-Awards bedacht und als Heilsbringerin der britischen Neo-Folk-Szene bezeichnet. Über all die Jahre hinweg hat sich die smarte Britin nicht nur mit ihrem Projekt Lump emanzipiert, sondern auch versucht, sich aus den ihr zugeschriebenen Dogmen zu befreien. "Song For Our Daughter" kam ganz unerwartet und plötzlich und sollte den Hörern als Geschenk in der Coronakrise dienen. Während andere Künstler aus marketingtechnischen Gründen ihre Releases verschoben, ging Marling den umgekehrten Weg und berührte mit den persönlichsten, intensivsten und teilweise traurigsten Songs ihres Lebens. Zwischen Beatles-Referenzen, Orchestrierungen und zurückgelehntem Pop gibt es alles, was die Singer/Songwriter-Schule so hergibt. Ein famoses Werk.
Paysage D’Hiver - Im Wald
Natürlich, die Schweiz hat als Metal-Aushängeschild Tom G. Warrior und seine Kultbands Hellhammer und Celtic Frost. Samael und Coroner haben die Szene aufgerüttelt, im Rockbereich haben es Krokus und Gotthard zu grenzenüberschreitenden Ruhm gebracht, aber das wahre Genie heißt Tobias Möckl. Der ist ein Drittel der gottgleichen Atmospheric-Black-Metaller Darkspace und außerdem Alleinherrscher bei seinem weniger bekannten, musikalisch aber nicht weniger genialen Projekt Paysage D’Hiver. Auf dem ersten offiziellen Studioalbum des musikalischen Genies gibt es geschlagene zwei Stunden nordische Atmosphäre, Schneeverwehungen, Kälte, Angst, Dunkelheit, "Eulengesang", "Schneeglitzern" oder "Stimmen im Wald". Mal mit Gesang, mal instrumental, aber stets mit eine unheimlich bedrohlichen Grundstimmung. Ein absolutes Meisterwerk!
Ansa Sauermann - Trümmerlotte
Mit seinem zweiten Album löst sich der mittlerweile in Wien ansässige Dresdner Ansa Sauermann endgültig von den eng gezogenen Gordeln der Vergangenheit. "Trümmerlotte" ist gleichermaßen leichtfüßiges Pop-Statement und inhaltsschwere Erlebnisabhandlung. Eine Trümmerlotte mag in seiner lexikalischen Erklärung ein lahmendes Pferd sein, Sauermann ist es definitiv nicht. Mit seinem Gespür für leichtfüßige und trotzdem textstarke Songs ist sein poetischer Gestus dem musikalischen gleichzusetzen. Sein Zweitwerk ist ein modernes, mutiges und ganz und gar ehrliches Popalbum, dass es verdient, über den Wulst ideenloser Kommerzalben hinweg herausgehört zu werden.
Moses Sumney - græ
Moses Sumney lässt tief in seine Seele blicken. Nach seinem 2017er-Megadebüt "Aromanticism" rückt er vom Thema Liebe ab und hinterfragt lieber seine Identität. Ghanaer? Amerikaner? Afrikaner? Weltenbürger oder nichts von allem? Er habe das Recht, viele zu sein, besingt er in "boxes". Sumney hinterfragt die Dogmen der Männlichkeit, toxische Maskulinität und warum es immer noch so verdammt schwierig ist, schwarz zu sein. Das 20 Songs starke Doppelalbum veröffentlichte er vorab digital. Angesichts der Intensivität der Songs kein Wunder, denn die zwischen Art-Pop, Soul und Indie Folk changierenden Songs mit ihren tonnenschweren Inhalten muss man erst einmal sacken lassen und verdauen. Fast schon kosmisch, außerweltlich sind die Kompositionen. "græ"steht genau für die Grauzone, in der sich der 28-Jährige befindet. Ein konzeptionelles Meisterwerk, das dem Mainstream ob seiner opulenten Vielseitigkeit aber unter Garantie verwehrt bleibt.
Kommentare
Da dieser Artikel älter als 18 Monate ist, ist zum jetzigen Zeitpunkt kein Kommentieren mehr möglich.
Wir laden Sie ein, bei einer aktuelleren themenrelevanten Story mitzudiskutieren: Themenübersicht.
Bei Fragen können Sie sich gern an das Community-Team per Mail an forum@krone.at wenden.