Nachdem in Wien vorwiegend Migranten in der Silvesternacht für große Zerstörungen gesorgt haben, wurden Vergleiche mit „Zeltfesten und der Jugend am Land“ gezogen. Wie falsch diese Vergleiche sind, beschreibt Jugendforscher Bernhard Heinzlmaier in diesem Kommentar.
In der Silvesternacht randalierten Jugendliche mit vorwiegend migrantischen Hintergrund in Wien-Favoriten. Einer der Krakeeler versuchte dabei, mit einer Mülltonne die Auslage eines Juweliergeschäftes einzuschlagen, wohl mit der Absicht, an die dort lagernden Wertgegenstände zu kommen.
Das gute Leben fällt einem nicht einfach zu
Der Sachverhalt ist recht einfach zu interpretieren. Nicht zum ersten Mal ist es in Favoriten zu Grenzüberschreitungen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund gekommen. Diese sind nach Europa gekommen, weil sie sich ein besseres Leben erwartet haben. Doch das gute Leben fällt einem hier nicht einfach zu. In einer meritokratischen Gesellschaft, in der im Regelfall nur jene belohnt werden, die etwas leisten, muss man etwas tun, um in den Genuss von Gratifikationen zu kommen. Offensichtlich wurden vielen Migranten andere Geschichten über Europa erzählt, Geschichten vom Paradies, in dem man von großzügigen staatlichen Hilfen, ohne viel tun zu müssen, zufrieden leben kann.
Offensichtlich wurden vielen Migranten andere Geschichten über Europa erzählt, Geschichten vom Paradies, in dem man von großzügigen staatlichen Hilfen, ohne viel tun zu müssen, zufrieden leben kann.
Aus dem Kommentar
Probleme ignoriert, verdrängt, heruntergespielt
Wenn die Fantasien vom Paradies mit den Realitäten einer beinharten Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft kollidieren und noch Diskriminierungserfahrungen hinzukommen, dann entstehen Enttäuschung und Zorn. Und aufgestauter Zorn hat sich nun in Wien, wie schon seit längerer Zeit in Paris, in Gewaltakten gegen Sachen und Menschen entladen. In Paris herrschen in manchen Vierteln bereits anomische Zustände, in Wien sind wir offensichtlich auf dem Weg dazu. Und warum? Weil die politisch Verantwortlichen und die Vertreter des journalistischen Meinungsestablishments die Gefahren, die von einer stetig anwachsenden Menge an traumatisierten, für unsere Arbeitsmarktstandards minderqualifizierten und kulturell hochgradig differenten überwiegend jungen Menschen ausgehen, bewusst ignorieren, verdrängen oder aus identitätspolitischen Gründen herunterspielen.
„Aber auch wir tragen Kopftuch“
Jene, die an der Erzählung von der Idylle einer bunten multikulturellen Gesellschaft tatkräftig mitgearbeitet hat, sind gelegentlich auch Wiener Journalisten. Ein beliebtes Mittel, um Migrationsprobleme zu relativieren ist der Whataboutismus. Der Trick dieser rhetorischen Figur besteht darin, für jedes negative Attribut einer migrantischen Gruppe sofort ein Beispiel aus der Einwanderungsgesellschaft aus dem Hut zu zaubern, das belegen soll, dass alles, was dieser vorgeworfen wird, dort ebenso üblich ist. So war es ein beliebtes Argument, gegen die Kritik am Kopftuchzwang für Mädchen in muslimischen Milieus, das Kopftuch der alten Bäuerinnen in ländlichen Regionen ins Spiel zu bringen. Geschickt unterschlagen wurde dabei, dass das Kopftuch der Frauen im ländlichen Raum weder patriarchal aufgezwungen noch ein religiöses Symbol war.
Unerfüllte Glückserwartungen
Nun muss der ländliche Raum, auf den mancher Städter ohnehin verächtlich herabblickt, auch wenn er gerne dort Zeit verbringt, um sich von der menschfeindlichen Hochgeschwindigkeitskultur der Stadt zu erholen, dazu herhalten, um eine Grenzüberschreitung von jungen Migranten in Favoriten zu exkulpieren. Dazu wird kurzerhand die Landjugend als potentiell gewalttätige Gruppe ins Spiel gebracht, um Regelverletzungen von enttäuschten migrantischen Jugendlichen, deren Glückserwartungen sich im Einwanderungsland nicht erfüllt haben, zu relativieren.
Gezielte Herabwürdigung
Es ist wichtig, das verwendete Wort „Landjugend“ in seiner Doppeldeutigkeit zu betrachten. Es steht einerseits generell für die Jugend im ländlichen Raum, andererseits bezeichnet es die größte Jugendorganisation des Landes, die „Österreichische Landjugend“. Betrachtet man die Landjugend im Allgemeinen, so ist deren Punzierung als Krawalljugend nicht nur kontrafaktisch, ein Blick in die Kriminalstatistik hätte den Autoren zur erhellenden Erkenntnis verholfen, dass es im ländlichen Raum deutlich weniger Gewalt- und Eigentumsdelikte zu beklagen gibt, sondern auch eine gezielte ideologisch motivierte Herabwürdigung einer Personengruppe mit dem Ziel, eine andere Gruppe durch einen verdrehten Vergleich reinzuwaschen. Eine solcher rhetorischer Winkelzug ist unmoralisch und mit dem Anspruch des Qualitätsjournalismus absolut unvereinbar.
„Krawall auch bei Landjugend“
Darüber hinaus zeigt die Rhetorik vor allem eines Wiener Journalisten, der schreibt: „Krawall bei Lass-die-Sau-raus-Gelegenheiten gibt’s traditionell auch unter der heimischen Landjugend“, eine wenig subtil ausgedrückte Verachtung für den ländlichen Raum, dessen jugendkultureller Alltag als Sequenz von „Lass-die-Sau-raus-Gelegenheiten“ insinuiert wird. Im Gegensatz dazu ist das Land längst nicht mehr der Ort, der von einer vulgären Kirchtagskultur, Dorf-gegen-Dorf-Raufereien und Maibaum-Umschneide-Aktionen gekennzeichnet ist. Im Gegenteil, das Land ist heute geprägt von hochwertigen Produktionsstätten, High-Tech-Kommunikation, guter Kinder- und Familienbetreuung, Premium-Wohnangeboten und vor allem von Sicherheit und nachbarschaftlicher Mitmenschlichkeit.
Das Land ist heute geprägt von hochwertigen Produktionsstätten, High-Tech-Kommunikation, guter Kinder- und Familienbetreuung, Premium-Wohnangeboten und vor allem von Sicherheit und nachbarschaftlicher Mitmenschlichkeit.
Aus dem Kommentar
Längst haben sich die Wanderungsströme umgekehrt. Sie gehen von der Stadt hinaus auf das Land und nicht mehr, wie früher, umgekehrt. Studien zeigen, dass viele jungen Städter, vor allem wenn sie eine Familie gegründet und Kinder haben, den sehnlichen Wunsch ausprägen, auf das Land zu ziehen. Eben, weil sie dort nicht mit französischen Zuständen, wie wir sie gerade in Favoriten gesehen haben, konfrontiert sind. Und weil sie ein Schulwesen vorfinden, vor allem was die Neuen Mittelschulen betrifft, dass eine deutlich bessere Lehr- und Betreuungsqualität zu bieten hat, als wir es aus den Großstädten kennen.
Gemeinschaftsfördernd
Nun zur „Landjugend“. Sie ist die größte und wohl auch gemeinschaftlich aktivste Jugendorganisation des Landes. Die Landjugend zeichnet sich dadurch aus, dass sich ihr Handeln nicht nur auf Ideologieproduktion und manipulative symbolische Rhetorik beschränkt, sondern überwiegend gemeinschafts- und kompetenzfördernde Angebote für jungen Menschen entwickelt und bereitstellt. Und wenn sich die Landjugend politisch engagiert, dann im Interesse des ländlichen Raumes, der nicht nur eine wertvolle wirtschaftliche, sondern auch eine wichtige kulturelle Ressource für das ganze Land darstellt.
Bei den Worten schwingt untergründig mit, dass das überhebliche städtische Bürgertum spürt, dass sich der ländliche Raum auf der Überholspur befindet.
Aus dem Kommentar
Auf Landbevölkerung eindreschen
Bei den oft abwertenden Worten schwingt untergründig mit, dass das überhebliche städtische Bürgertum spürt, dass sich der ländliche Raum auf der Überholspur befindet und das deshalb zur Bewältigung seiner Abstiegsängste einen „Lass-die-Sau-raus-Journalismus“ ausbildet, der jede Gelegenheit nutzt, um auf Landbevölkerung einzudreschen, vor allem auch deshalb, weil diese ja auch nicht so wählt, wie sich das die aufgeklärten Städter das vorstellen.
Ländliche Jugendkultur denunziert
Zusammengefasst kann man sagen, dass die Ausfälle gegen die Landjugend die Geisteshaltung der städtischen Meinungseliten exemplarisch zum Ausdruck bringen, die darin besteht, die ländliche (Jugend-)Kultur, entgegen allen empirischen Fakten, als konservativ-patriarchale Männerkultur zu denunzieren, die durch wiederkehrende testosterongeschwängerte Festzeltprügeleien auffällt. Ob Teile der durch den völlig indiskutablen Vergleich in Schutz genommenen muslimischen Migrationskultur einer solchen Vorstellung nicht bedeutend näherstehen, sei abschließen nicht als Feststellung, sondern als Anregung zum Nachdenken in den Raum gestellt.
Bernhard Heinzlmaier, Österreichisches Institut für Jugendkulturforschung
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