Bugs, Reklamationen und der Rauswurf aus Sonys Playstation-Store: Den Start von „Cyberpunk 2077“ hat CD Projekt RED verpatzt. So sehr, dass das Spiel selbst glatt ein wenig in den Hintergrund getreten ist und noch monatelang eine Baustelle bleibt. Das ist schade, immerhin breiten talentierte Geschichtenerzähler hier eine faszinierende Science-Fiction-Welt aus, die bei näherer Betrachtung gar nicht so fern unserer Realität ist.
Wir sparen uns hier jegliche Spoiler über das Abenteuer, das Held V in „Cyberpunk 2077“ erlebt und wenden uns stattdessen dem titelgebenden Phänomen zu: der Science-Fiction-Strömung des Cyberpunk und ihren typischen Stilmitteln.
Im Spiel, über das jetzt alle reden, schreitet man durch eine Welt, in der die Menschen wundersame Technologien und glänzende Metropolen erschaffen haben, in denen sie teils sogar die Naturgesetze außer Kraft setzen. Auf der anderen Seite stehen bedrückende Slums in düsteren Häuserschluchten, in denen die Verlierer des Fortschritts im Neonlicht um ihr täglich Brot kämpfen.
Science-Fiction ohne Idealismus
Im Cyberpunk hat man es nicht mit idealistischen Weltraumopern mit frommen Helden wie in „Star Trek“ zu tun. Vielmehr wird hier der Versuch unternommen, das Zusammentreffen niederer menschlicher Triebe mit modernster und von mächtigen Konzernen kontrollierter Technik zu skizzieren.
In „Cyberpunk 2077“ trifft man die so entstehenden Gegensätze an jeder Ecke. Da geben sich Wohlhabende in den Nobelhotels der Megakonzerne dekadenten Hobbys hin, während draußen in der Gosse Sucht, Gewalt und Prostitution regieren. Die einen machen sich in dieser Welt unsterblich, die anderen kämpfen Tag für Tag ums Überleben.
Mit den Widersprüchen einer vielleicht nicht so fernen Zukunft spielt das Genre, das Stéphanie Chaptal, Jean Zeid und Sylvain Nawrocki im Dezember in einem neuen Buch beschrieben haben, seit den Achtzigern. Lang vor „Cyberpunk 2077“ gab es Romane wie den „Neuromancer“ von William Gibson, Filme wie „Blade Runner“ oder „Matrix“, Animes wie „Akira“, zuletzt TV-Serien wie „Black Mirror“ oder „Altered Carbon“.
Mensch, Maschine und Cyberspace werden eins
Ein Stilmittel, das man in Cyberpunk-Welten oft findet: Mensch und Maschine sind nicht mehr klar getrennt. Da spazieren Menschen mit bizarren Cyborg-Prothesen und anderen künstlichen oder per Gentechnik herbeigeführten Verbesserung durch die Straßen - und bringen den Betrachter zum Nachdenken. Ist das wirklich so weit hergeholt?
Nicht wirklich: Kaspersky präsentierte jüngst eine Umfrage, in der zwei Drittel der Österreicher angaben, Cyborg-Implantaten gegenüber aufgeschlossen zu sein. Eine Biohacker-Szene implantiert sich Chips als Türöffner. Ein britischer Künstler hat sich einen Sensor in den Kopf einpflanzen lassen, mit dem er Farben „hören“ kann.
Biotechnologie soll die Medizin revolutionieren. Exoskelette erobern Militär und Wirtschaft. Roboter sind beeindruckend agil geworden, Drohnen liefern Packerl aus und der Einsatz all dieser Technologien für ökonomische oder politische Interessen liegt nah. Noch sieht man diese Technologien nicht an jeder Straßenecke wie in Cyberpunk-Welten. Aber in ein paar Jahrzehnten?
Gedankensteuerung und virtuelle Welten
Im Cyberpunk verschmilzt aber nicht nur der Körper mit Hardware, sondern auch der Geist mit dem Cyberspace. Da gibt es Menschen versklavende Künstliche Intelligenzen mit schier unendlichen kognitiven Fähigkeiten wie in „Matrix“, den digitalisierten menschlichen Geist mit Backup-Funktion wie in „Altered Carbon“, oder auf Speicherkarte gepresste und über die Hirnschnittstelle völlig real erlebbare Erinnerungen als Volksdroge wie in „Strange Days“.
Der Cyberspace wird in vielen Werken als künstliche Welt dargestellt, durch die der Nutzer als Avatar schreitet, als wäre er leibhaftig dort. Die Vorläufer solcher Visionen sind schon sichtbar: Online-Rollenspiele begreift manch einer heute als Lebensinhalt. Wir reden auch schon mit einfachen Künstlichen Intelligenzen - seien es Chatbots, smarte Lautsprecher oder eine marodierende KI auf Twitter.
Noch braucht es Hightech-Brillen für Ausflüge in virtuelle Welten, die, weil sie nicht alle Sinne bedienen, obendrein noch nicht sonderlich glaubwürdig sind. Aber wer sagt, dass die Innovation Halt macht und das so bleibt? An der Kopplung von Geist und Technik forschen Wissenschaftler und Armeen ebenso wie finanzstarke Geschäftsleute wie Elon Musk. Erste Erfolge bei Gedankensteuerung und Hirnschnittstellen wurden bereits vermeldet.
Megakonzerne und eine völlig zerstörte Umwelt
Im Cyberpunk werden die Schöpfer dieser hochgezüchteten Technologien oft als gierige Konzerne dargestellt, denen es nicht um das Wohl der Menschheit, sondern vor allem um Geld geht. Die Konzerne überwachen die Menschen, halten sich Privatarmeen und haben mehr Macht als die Politik. Es ist eine Dystopie, in der Umweltschutz und Sozialstaat gescheitert sind und die Konzerne ohne Rücksicht auf Mensch und Umwelt agieren.
Auch solche im Cyberpunk verbreiteten Visionen scheinen reale Vorbilder zu haben, wie man in den letzten Jahren in Berichten über ausbeuterische Arbeitsbedingungen bei IT-Konzernen oder über Mitarbeiterüberwachung in Unternehmen gelesen hat.
NGOs werfen IT-Konzernen schon länger vor, teils von Kindern abgebaute Rohstoffe aus „Blutminen“ in Afrika zu nutzen. Dort entstehen auch Elektroschrott-Wüsten, in deren giftiger Umgebung nichts mehr gedeiht. Im Norden Chinas blasen Kohlekraftwerke Abgase in die Atmosphäre - für Strom, der in Bitcoin-Minen fließt. Amazon machte Schlagzeilen mit einer konzerneigenen Überwachungs-Infrastruktur, welche die Aktivitäten unbequemer Umweltschützer oder Politiker analysiert. Die eigenen Mitarbeiter überwacht der Megakonzern im Job sowieso lückenlos.
Fazit: Die Cyberpunk-Welten aus Film, Fernsehen und Literatur sind so interessant, weil die dargestellten Zukunftsvisionen einen realen Ursprung haben und wir die möglichen Vorboten in unserer Gegenwart sehen. Cyberpunk-Fiktionen halten der modernen Welt den Spiegel vor, zeigen nicht nur die erstaunlichen Möglichkeiten neuer Technologien, sondern auch deren bedrohliche Abgründe. Das macht den Reiz des Genres aus und die Spiele, Filme oder Bücher zum Thema umso interessanter. Auch „Cyberpunk 2077“, dem misslungenen Start zum Trotz.
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