Nach einem Jahr voller Erfolgssingles und Awards veröffentlicht die 26-jährige Celeste Epiphany Waite ihr lang ersehntes Debütalbum „Not Your Muse“. Darauf zeigt die Britin mit spielerischer Leichtigkeit, dass sie den Soul der 60er-Jahre mit warmen R&B-Referenzen und einer ausdrucksstarken Stimme zu einem unwiderstehlichen Sound vermengen kann.
Wenn die renommierte BBC in ihrer alljährlichen „Sound Of…“-Liste die größten musikalischen Talente kürt, dann liegt sie meistens richtig. Siegerinnen und Sieger dieses heiß ersehnten Polls waren in den letzten Jahren unter anderem 50 Cent, Adele, Sam Smith, Ellie Goulding oder 2020 Celeste. Zu Ruhm und Glanz der genannten Größen fehlt freilich noch einiges, doch die 26-Jährige könnte 2021 in einer ähnlichen Qualitätsdominanz ersticken wie 2019 Pop-Hoffnung Billie Eilish. Die Parallelen zwischen den beiden so gegensätzlich erscheinenden Powerfrauen sind offensichtlicher als man glaubt. Als Eilish bei den BRIT-Awards im Februar 2020 ihren famosen „James Bond“-Song beschloss, wurde sie von Celeste Epiphany Waite in der Londoner O2-Arena abgelöst, um „Strange“ zu performen. Nicht nur Billie war von der Stimme Celestes nachhaltig begeistert. An diesem kühlen Wintertag nahm die Welt erstmals richtig Notiz von der sympathischen Sängerin, die sich nebenbei auch gleich noch den „Rising Star Award“ krallte und Branchengrößen wie Rod Stewart, Harry Styles oder Lizzo neben sich verblassen ließ.
Musikalische Rebellin
Die Amerikanerin hat als Backgroundsängerin der verstorbenen DJ-Legende Avicii schon 2015 auf sich aufmerksam gemacht. Dann unterschrieb sie bei Bank Holiday Records, dem Label von Lily Allen, veröffentlichte 2017 ihre EP „The Milk And The Honey“ und machte erstmals solo auf sich aufmerksam. Kurz davor zog sie mit nur 100 Pfund in der Tasche nach London und wurde gefeuert, weil sie lieber ins Studio als zum Job ging. Bis dahin hatte sie bereits ein buntes Leben hinter sich. Sie wurde 1994 im kalifornischen Culver City geboren. Mutter Britin, Vater Jamaikaner. Nach der Trennung der Eltern folgte mit drei der Umzug ins britische Dagenham, ab dem fünften Lebensjahr war Celeste in einem kleinen Dorf nahe der Südstadt Brighton daheim, wo sie den Großteil ihrer Kindheit verbrachte, und neben dem Ballett langsam auch die Liebe zu Ella Fitzgerald und Aretha Franklin entdeckte. In Eigenregie tauchte sie in die Welt von Thelonious Monk, Koyo Taylor und Sun Ra ein, bevor sie sich in verschiedenen Bands tummelte und via Macbook und Soundcloud-Account als melancholische Pop-Stimme im elektronischen Musikmantel aufzufallen begann.
Mehr als vier Jahre nach ihrer ersten Single „Daydreaming“ ist Celeste nun an der vorläufigen Spitze angelangt und füllt diese mit Qualität und Nachhaltigkeit. Ihr wegen Covid-19 zuerst nach hinten verschobenes und nun doch noch um einen Monat vorgezogenes Debütalbum „Not Your Muse“ gilt schon jetzt als ein heißer Anwärter auf das „Album des Jahres“ und hält dem immensen Druck mit beneidenswerter Leichtigkeit stand. Der bereits zuvor genannten Single-Auskoppelung „Strange“ kann Celeste den rasanten Karriereaufstieg seit September 2019 verdanken. Kritiker und Fans zeigten sich begeistert, mit dem im Jänner 2020 nachgereichten „Stop This Flame“ waren die Dämme gebrochen. Erstmals chartete sie als Solokünstlerin in den britischen Top-10, der Track wurde zudem von Sky Sports für die Berichterstattung der englischen Premier-League-Sendungen und für das Computerspiel „FIFA 2021“ verwendet. Damit war Celeste der Zugang zum breiten Mainstream gewährt. Der von einem sanften Piano getragene Song vereint all ihre Stärken auf einen Punkt: den leichtfüßigen Soul der 60s, warmherzigen R&B, einen Hauch von Jazz und die untrüglich durchdringende Stimme, die leidvoll an das unsterbliche Vermächtnis von Amy Winehouse erinnert. Dass die Nina-Simone-Komposition „Sinnerman“ nahtlos in den Song fließt, passt wie die Faust aufs Auge.
Kraft und Inspiration
Auch wenn der Vergleichsdruck zu einer erdrückenden Bürde werden kann, Celeste hat mit Winehouse und ihren eigenen Idolen so einiges gemeinsam. In erster Linie die tröstliche Zeitlosigkeit in den einzelnen Kompositionen, die einzigartige Stimmkraft, die weit über den bloßen Effekt des Auffallens hinausreicht und nicht zuletzt der Sinn für Empowerment, lasziven Feminismus und der umarmenden Geste, dass Musik Berge versetzen und die Welt vereinen kann. „Not Your Muse“ ist freilich ein Oxymoron, denn Celeste ist Muse, Idol und Inspiratorin für eine Vielzahl anderer Künstler, die aus dem kreativen Oeuvre der Britin schöpfen werden. „,Not Your Muse’ ist die Kraft, die ich gefunden habe, nachdem ich mich davor vollkommen kraftlos gefühlt hatte“, gab Celeste in einem Interview im Dezember bekannt, „während der Arbeit an diesem Album habe ich mich ganz bewusst an einen Ort begeben, an dem ich mich stark fühlte, wirklich erfüllt und inspiriert. Ich bin sehr stolz darauf, was ich mit meinem Debütalbum geschaffen habe.“
Für falsche Bescheidenheit hat die akribisch arbeitende Goldstimme keine Zeit. „Ich will zu den absoluten Superstars meiner Zeit gehören“, erklärte sie der „Vogue“ unverblümt. Marlene Dietrich ist Celestes Stil-Ikone, Etta James liebt sie für ihre kraftvolle Musik und „The Man With The Dancing Eyes“ von Sophie Dahl landet immer wieder als Lektüre auf dem Nachtkasterl. Frauenpower für die Powerfrau, die sich in ihren Songs aber auch gerne sanft und mystisch gibt. Etwa im theatralisch getragenen Titeltrack, der mit konzilianter Sinnlichkeit betört. „Not Your Muse“ ist übrigens einer der wenigen Songs auf dem Album, den Celeste nicht mit ihrem Songwriting-Partner Jamie Hartman geschrieben hat. Der Londoner ist mit seiner Indie-Band Ben’s Brother nur mäßig erfolgreich, hat als Autor aber unter anderem mit Lewis Capaldi an „Hold Me While You Wait“, mit Rag’n’Bone Man an „Human“ oder mit Marlon Roudette an „When The Beat Drops Out“ gebastelt. Ein Kenner der Materie, der sich wie ein Chamäleon in unterschiedlichste Genres und Stile einfinden kann und Celeste die musikalische Unterlage für ihre famose Stimme bereitet.
Dem Hype gerecht
In den jeweils passenden Momenten kann Celeste Gestus und Stimme zwischen majestätisch, schüchtern, selbstbewusst, introvertiert und ausdrucksvoll changieren. Wie die ganz Großen ihrer Zunft versteht sie in Songs wie „Love Is Back“ oder dem feinsinnigen „The Promise“ einen Wirbelsturm der Emotionen zu entfachen und eine imaginäre Welt der Sehnsüchte und Träume zu erschaffen. Die ständig durch die Kompositionen wabernde Nostalgie und Wärme der 60er-Jahre tut dem hervorragend arrangierten und gänzlich an Corona vorbeiziehenden Album ungemein gut. Es versucht erst gar nicht zwanghaft auf den gängigen Zeitgeist aufzuspringen und sich in der vergänglichen Gegenwart zu suhlen, sondern umschifft alle Hürden mit spielerischer Nonchalance. Besonders beeindruckend ist ihre Stimmkraft, wenn die Instrumentierung auf das Mindeste reduziert wird („A Kiss“) und Celeste ausreichend Platz zum Glänzen bleibt. Das lange und penible Schrauben am Endprodukt hat ihm gutgetan. „Not Your Muse“ wird dem internationalen Hype durchaus gerecht und platziert Celeste gleich einmal weit oben in der Popmusik-Champions-League.
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