Corona-Mutationen

Ist das Konzept der Herdenimmunität widerlegt?

Wissenschaft
11.02.2021 11:05

Israel, die USA und Großbritannien haben nicht nur tiefer in ihre Taschen gegriffen, sondern auch viel früher Verträge mit Impfstoffherstellern abgeschlossen als zum Beispiel die EU. Das erklärte Ziel ist die Herstellung einer Herdenimmunität gegen SARS-CoV-2. Doch war das alles womöglich vergebens? Medienberichte und Studienergebnisse aus Brasilien deuten nun an, dass das Konzept angesichts neuer Mutationen womöglich aufgegeben werden könnte.

Manaus, die Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Amazonas erlebt gerade einen zweiten Kollaps des Gesundheitssystems - und das, obwohl die große Mehrheit der Bevölkerung schon mit dem Coronavirus infiziert gewesen sein soll. In der Zwei-Millionen-Metropole fehlen derzeit Krankenhausbetten und Sauerstoff, Patienten werden in andere Bundesstaaten ausgeflogen. Die Weltgesundheitsorganisation organisierte Hilfslieferungen.

Zweifel an Zahlen aus Manaus
Besonders verwunderlich an der Entwicklung ist, dass Forscher dort die theoretische Schwelle zur Herdenimmunität überschritten glaubten: Im Jänner schätzten brasilianische Experten im Fachblatt „Science“ den Anteil der Bewohner von Manaus, die sich bis Oktober infiziert hatten, auf mehr als 70 Prozent. Sie hatten Proben von Blutspendern auf Corona-Antikörper untersucht. Die Schwelle wird derzeit mit rund 67 Prozent angegeben.

Dieser Patient in Manaus hat Glück - er hat noch einen Platz im Spital bekommen. (Bild: AFP)
Dieser Patient in Manaus hat Glück - er hat noch einen Platz im Spital bekommen.

Was ist in Manaus passiert? Im Journal „The Lancet“ nennen Forscher mehrere Erklärungen, die sich nicht gegenseitig ausschließen. Demnach könnten die Schätzungen der Infektionen zu hoch gewesen sein. Auch die in der ersten Welle erlangte Immunität könnte möglicherweise im Dezember wieder geschwunden sein, so die Autoren. Hinzu komme der Nachweis von Corona-Varianten in Manaus, die dem Immunsystem von Genesenen entgehen und erneut Infektionen verursachen. Und die offenbar ansteckender sind als frühere Formen. Bei SARS-CoV-2 ist bisher zudem unklar, ob Geimpfte das Virus noch übertragen und wie lange eine Immunität anhält.

Höhere Basisreproduktionszahl
Ein ansteckenderes Virus hat auch eine höhere Basisreproduktionszahl: Die Kalkulation vom Frühjahr, dass ein Infizierter im Schnitt drei Menschen ansteckt, müsste bei einer Verbreitung von Varianten angepasst werden. Das heißt, dass Herdenimmunität nicht bereits bei 67 Prozent erreicht wäre, sondern erst bei einem höheren Anteil. Der deutsche Virologe Christian Drosten bezweifelt allerdings die Annahme, in Manaus sei 2020 bereits eine Herdenimmunität entstanden.

(Bild: stock.adobe.com)

„Mit der Impfung sind wir erst am Anfang“
Der Epidemiologe Rafael Mikolajczyk von der Uniklinik Halle betont auf dpa-Anfrage, dass auch 30 Prozent empfängliche Bürger viel seien, wenn eine neue Virusvariante so viel infektiöser ist, dass die Epidemie sich erneut ausbreiten könne. Der Anteil sei groß genug, um ein Gesundheitssystem zu überlasten. „Von einer Herdenimmunität, die aufgrund durchgestandener Infektionen zustande kommt, sind wir noch sehr weit entfernt. Gerade mit den neuen Varianten ist es kein realistisches Szenario und auch mit der Impfung sind wir erst am Anfang“, meint Mikolajczyk.

Dennoch sei das konsequente Impfen das entscheidende Mittel, um der Pandemie entgegenzutreten, meint der Präsident der Gesellschaft für Virologie, Ralf Bartenschlager. Ohnehin wird Herdenimmunität nach Ansicht Drostens nicht schlagartig erreicht sein. Er verwies auf erste Daten aus Israel, die ermutigend seien: Demnach sank die Rate der Krankenhausaufnahmen bereits in Altersgruppen, in denen ungefähr jeder Zweite geimpft war.

(Bild: AFP)

Die Experten betonen aber, dass auch in einer relativ gut durchgeimpften Bevölkerung Gruppen von wenig bis gar nicht geimpften Menschen zu finden seien. Dort seien erneute Ausbrüche immer wieder möglich.

Quelle: APA/dpa

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