Besuch in Wuhan

Die Stadt, das Coronavirus und das Schweigen

Ausland
14.02.2021 13:10

Ein Besuch in Wuhan, wo die Corona-Katastrophe ihren Ausgang nahm. Was man dort erlebt, erinnert an die Normalität, nach der wir uns sehnen. Aber nur, solange man nicht nachfragt.

Entlang der Promenade am Jangtse-Fluss lassen Senioren bunte Drachen im Wind tanzen. In der Jianghan-Fußgängerzone mit ihren modischen Läden drängeln sich konsumwillige Menschenmassen mit vollgepackten Einkaufstaschen von Zara und Adidas. Ein herrliches Mensch-an-Mensch-Gedrängel auch nachts, an den Tresen der Pubs und Clubs. Wenn die Jännertemperaturen auf minus sechs Grad sinken, feiert und flirtet die Jugend von Wuhan bei vollen Bierkrügen und lauter Livemusik.

Shoppen, feiern, soziale Kontakte
Ausgerechnet Wuhan, die Metropole, in der die Corona-Katastrophe ihren Ausgang nahm, führt uns heute ein Leben vor, wie es der Lockdown-gefesselte Europäer vermisst und ersehnt. Shoppen, feiern, soziale Kontakte. Der Alltag, der uns fehlt. Ein Sehnsuchtsort, solange man mit niemandem spricht, solange man nicht nachfragt, recherchiert und wissen will, wie es wirklich war und ist in dieser Stadt. Denn dann wird Wuhan leise. Und jene, die doch erzählen, wollen aus Angst vor Repressionen anonym bleiben.

Auswandern nach Europa
Der Kampf gegen das Virus hat bei vielen Bewohnern tiefe Narben hinterlassen. Herr Li, der seinen echten Namen nicht gedruckt wissen will, spricht von einem verloren gegangenen Urvertrauen in das System. Im Dezember 2019, als der Unternehmer wie viele seiner Mitbürger längst den Ernst der Lage spürte, brandmarkte die Regierung die warnenden Stimmen noch immer als „kriminelle Unruhestifter“ und machte diese mundtot. Lis Erkenntnis: „Irgendwann merkt man, dass alles auf einer Lüge beruht, nichts echt ist.“ Obwohl Li in seiner Heimat eine wirtschaftlich vielversprechende Zukunft vor sich hat, lässt ihn der Gedanke nicht mehr los, mit der Familie nach Europa auszuwandern. Zhang Qiang, ein Mittvierziger mit abgewetzter Kappe und grauem Schlabber-Fleece, hat an einem sonnigen Jännermorgen in ein Kaffeehaus geladen. Um ihn herum sitzen junge Pärchen vor Kuchen und Cappuccino, einige Kinder tollen um die voll belegten Tische herum. „Ich bin am 22. Jänner zufällig mitten in der Nacht wach geworden. Auf meinem Handy habe ich die Nachricht gelesen, dass die Stadt am Morgen um zehn Uhr abgeriegelt wird“, berichtet Zhang über jenen Moment, der sein Leben für immer verändern sollte.

Polizisten am Tianhe Flughafen in Wuhan (Bild: APA/AFP/Hector RETAMAL)
Polizisten am Tianhe Flughafen in Wuhan

Gerade noch hatte er den allerletzten Zug aus Wuhan heraus erwischen können, der brachte ihn zu Verwandten in eine umliegende Kleinstadt. Doch auch dort hat ihn der Lockdown wenige Tage später eingeholt: „Ich konnte nicht mal das Haus verlassen, die Tür war abgeschlossen“, erinnert er sich. Monatelang blieben selbst simple Annehmlichkeiten wie Kaffee oder Zigaretten unerreichbarer Luxus. Nach anfänglichen Vertuschungen sperrte die Lokalregierung am 23. Jänner die gesamte offiziell acht Millionen Einwohner zählende Stadt Wuhan ab, später auch die umliegende Provinz. Im ganzen Stadtgebiet fuhren keine U-Bahnen und Busse mehr, auch sämtliche Autobahnverbindungen nach außerhalb wurden vollständig gekappt. Alle Bürger Wuhans waren 76 Tage lang in ihren Wohnungen eingesperrt. Die Wohnblöcke wie Festungen abgeriegelt. Totale Ausgangssperre, viel mehr als Atmen war nicht mehr erlaubt. Die offizielle Corona-Statistik der Provinz Hubei verzeichnet 4512 Todesfälle und 68.150 Infizierte - man müsste sie um die Zahl der Albträume, Panikattacken, Gewaltausbrüche ergänzen, die die isolierten Bewohner erlitten. Doch Seelenqualen sind noch schwerer zu messen als Virusinfektionen.

Die Corona-Helden
Eine halbe Autostunde nördlich des Stadtzentrums ist diese entbehrungsreiche Periode nun zu einem musealen Stoff geworden. In einem riesigen Messezentrum wird auf einer Fläche von mehr als 9000 Quadratmetern der heroische Kampf gegen das Virus erzählt: Per Hologramm lässt sich eine virtuelle Notfallambulanz besichtigen, in Vitrinen liegen Erinnerungsstücke von Covid-Patienten, und an einem Trauerschrein kann man der Verstorbenen gedenken. Vor allem aber ist die Ausstellung eine grandiose Inszenierung der Kommunistischen Partei, die sich als Retterin des virusbedrohten Volkes darstellt. Überall wehen die Flaggen der Partei, und auf Informationstafeln wird unverhohlen Geschichtsfälschung betrieben. Man habe den Kampf gegen die Epidemie „zum frühestmöglichen Zeitpunkt“ eingeleitet. Für Selbstkritik oder gar Eingeständnisse von Fehlern ist im offiziellen Narrativ der Regierung kein Platz.

In dieser Ausstellung sind die Helden und ihre Heldentaten im Kampf gegen das Coronavirus zu finden. (Bild: APA/AFP/HECTOR RETAMAL)
In dieser Ausstellung sind die Helden und ihre Heldentaten im Kampf gegen das Coronavirus zu finden.

Wer Zweifel sät, bekommt die Härte der Staatsmacht zu spüren. Die 37-jährige Videobloggerin Zhang Zhan, die zu Beginn des vergangenen Jahres die chaotische Realität Wuhans mit ihrer Smartphone-Kamera dokumentiert hatte, wurde zu vier Jahren Haft verurteilt. Weitere zwei Bürgerjournalisten befinden sich nach wie vor in Hausarrest. Und von Fang Bin, dessen heimliche Aufnahmen von aufgestapelten Leichen vor einem Krankenhaus in Wuhan von Fernsehsendern weltweit ausgestrahlt wurden, fehlt bis heute jede Spur. Trotz Parteipropaganda und der Unterdrückung kritischer Stimmen sind viele Bewohner Wuhans zu Recht stolz darauf, wie sich die Stadt innerhalb weniger Monate den Weg aus tiefster Corona-Not zurück zur Normalität erkämpft hat. „Durch den Lockdown haben wir gesehen, dass das chinesische System sehr gut darin ist, eine Pandemie zu meistern“, sagt etwa ein Café-Besitzer: „Viele Ausländer reden zwar von Freiheit und davon, dass sie jeden Tag hinaus müssen. Aber so kann man das Virus nicht kontrollieren.“

Zumindest ökonomisch geht das Reich der Mitte als eindeutiger Sieger aus dem Krisenjahr hervor. Die Staatsführung hat es wie nur wenige Länder geschafft, die Covid-Infektionszahlen derart zu drücken, dass die Wirtschaft des Landes wieder hochfahren konnte. China ist die einzige große Wirtschaftsnation der Welt, deren Bruttoinlandsprodukt wächst - und zwar mit 2,3 Prozent deutlich stärker, als von Beobachtern erwartet.

Arbeiter in China (Archivbild) (Bild: AP)
Arbeiter in China (Archivbild)

Zurechtgezimmerte Realität
Vielleicht gibt das einstige Corona-Epizentrum damit auch einen Ausblick auf das China nach dem Coronavirus: wirtschaftlich florierend, doch vom Ausland vollkommen abgeschnitten. Wer als Nicht-Chinese mit Anwohnern reden will, bekommt immer dieselbe misstrauische Frage gestellt: „Seit wann sind Sie bereits in China?“ Man ist grundsätzlich verdächtig. Es gilt, sich vor dem Fremden zu schützen, schließlich könnte er ja den Erreger in sich tragen. Nun sollte eine Delegation der WHO den Ursprung der Pandemie untersuchen. Dass die politisch heikle Forschungsreise überhaupt zustande kam, ist ein kleines Wunder: Monatelang hatte sich Chinas Staatsführung dagegen gewehrt, bis zum letzten Augenblick im Jänner die Erteilung der Visa verhindert. Der Erkenntnisgewinn der Delegation war gering: Denn zu sehen bekamen die Wissenschafter nur das, was die chinesische Regierung zeigen wollte.

Seit Monaten arbeiten die staatlich kontrollierten Medien an einer Desinformationskampagne, die ein Ziel hat: systematisch Zweifel zu säen, dass das Virus tatsächlich in China auf den Menschen übergesprungen ist. Selbst die renommierte Wissenschafterin Shi Zhengli, die Wuhans Institut für Virologie leitet, hat sich in einem Artikel im „Science Magazine“ für die von der Kommunistischen Partei propagierte Alternativtheorie ausgesprochen, dass das Virus evtl. über importierte Tiefkühlware aus dem Ausland nach China gekommen sei. Der mittlerweile legendäre Huanan-Wildtiermarkt in Wuhans Innenstadt ist seit Jänner 2020 abgesperrt, die Virusproben und Tiere wurden damals umgehend vernichtet. Wer sich dort zu lange herumtreibt, wird schon bald von Männern in schwarzen Uniformen nach seinen Beweggründen gefragt.

Li Wenliang (Bild: AFP)
Li Wenliang

Nur einen Steinwurf entfernt liegt das Zentralkrankenhaus. Dort erlag am 7. Februar 2020 der Arzt Li Wenliang seiner Covid-Erkrankung. Li hatte bereits im Dezember vor den Gefahren des neuartigen Virus gewarnt. Doch er wurde von der Regierung zum Schweigen verdonnert. Wuhan, die leise Stadt. Die Stadt, in der man shoppen und feiern darf, aber flüstern muss, wenn man die Wahrheit sagt. Die Stadt, in der das Virus offiziell ausgerottet ist. Am 25. Jänner 2021 verzeichnen Chinas Gesundheitsbehörden 124 neue Corona-Infektionen. Fast zehnmal mehr als im Vormonat. Das Virus ist stärker als jede Propaganda.

Fabian Kretschmer
(Der Text ist erschienen im Magazin FOCUS am Samstag, 30. Januar 2021)

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