Auf seinem spontan erschienenen, sechsten Album will Justin Bieber „Justice“, also Gerechtigkeit. Allerdings geht es nicht um die angeteaserten globalen Probleme mit Rassimus, Klimakrise oder Pandemie, sondern um Selbstreflektion, Religion und Liebe. All das verpackt in ein großspuriges Pop-Konzept, das Hits vermissen lässt und im Äther des Zeitgeists verpuffen wird.
Da schreibt man zwanglos ein paar Songs in der Corona-Langeweile und plötzlich entsteht ein Album. So oder ähnlich kann es einem anno 2021 schon mal gehen, auch wenn es immer noch interessant ist, dass ein dezidierter Single-Künstler wie Mainstream-Schnuckel Justin Bieber so bedacht darauf ist, das große Ganze zu liefern. Das könnte durchaus an den nicht zu Unrecht vorhandenen Minderwertigkeitskomplexen liegen. Künstlerisch wohlgemerkt, denn rein kommerziell kann dem Kanadier weltweit kaum jemand was vormachen - doch Profi- wie auch Hobbymusiker wissen gemeinhin, die Liebe muss auch von den Kritikern und Medien kommen, um endlich in Ruhe schlafen zu können. Das wird freilich nicht allen gewährt und bei Bieber stellt sich langsam die Frage, ob er die Schatten seiner Vergangenheit überhaupt jemals wird ablegen können. In der zehnteiligen YouTube-Doku „Seasons“ gab Biebs vor gut einem Jahr einen Einblick in sein derangiertes Seelenleben und fürwahr, man konnte Mitleid mit dem jungen Mann verspüren, dem niemals eine normale Kindheit vergönnt war.
Flache Auseinandersetzung
Darauf folgte im Februar „Changes“, das erste Album nach fünfjähriger Pause, dass ihn klanglich sehr stark an den R&B rückte, den er schon 2012 auf „Believe“ versuchte. Seinen Läuterungs- und Reifeprozess hatte er damit nicht ganz abgeschlossen, weshalb er seinem Ich nun noch einmal wort- und klanggewaltig Ausdruck verleiht. Der eingangs erwähnte Größenwahn lässt sich in den Sphären, in denen sich Bieber seit seiner frühen Kindheit bewegt, nicht mehr ablegen. Nur so ist es zu erklären, dass er sein doch überraschend flott gefertigtes sechstes Album „Justice“ mit einem Sample von Martin Luther King einleitet und den Menschenrechtsaktivisten dann zur Albumhalbzeit noch einmal hervorkramt. Die „Black Lives Matter“-Proteste sind auch an Bieber nicht vorbeigegangen und den Schock darob hätte er verarbeiten müssen. Gut gemeint, schlecht umgesetzt, denn wie so einige seiner Generation vergisst auch Bieber zu schnell, dass Worten - gerade in seiner verantwortungsvollen Position - auch Taten folgen sollten. Ein paar empörte Social-Media-Posts und Sample-Einspielungen reichen nicht für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Thematik. Damit lässt sich maximal das rehäugige Kreisch-Fan-Mädchen täuschen, das soeben das erste Mal ein Gymnasium von innen gesehen hat, nicht aber ein aktives Mitglieder Protestkultur.
Aber Bieber will über die Teenie-Schnappatmungsreaktionen hinauswachsen und dafür reicht eine derart frech zur Schau gestellte Oberflächlichkeit nicht. Im Endeffekt geht es doch wieder nur um den Egoismus eines ewig Missverstandenen. Leben, Religion, Liebe. Ehefrau Hailey Baldwin Bieber hat Millionen Teenager-Feuchtträume weggewischt und den Kanadier so stark im Griff, dass er künstlerisch an nichts anderes mehr denken kann. „Off My Face“ oder „Love You Different“ zerfließen vor Schnulzentauglichkeit seiner Angebeteten gegenüber und wenn er gerade nicht den Vorzügen und Schönheiten seiner glückseligen Ehe huldigt, dann versucht er sich in gefühlt jeder dritten Strophe als geläuterter Christ zu inszenieren. Nicht nur in der Hit-Single „Holy“ spielt die Religion eine wichtige Rolle. „I’m on my tenth-thousandth life, but this is the one I’m not giving up“, singt er in „Deserve You“, eine der unzähligen Tracks wo er oftmals weinerliche Selbstverzeihung mit einer effektvollen Liebeseuphorie vermischt, die an die einstigen Fremdschäm-Auftritte von Tom Cruise bei Oprah erinnert, als dessen Augen keinen Zentimeter an Katie Holmes vorbeigingen.
Im Kreis laufen
Nur zum Verständnis - gegen Selbstreflektion und Liebesglück ist überhaupt nichts einzuwenden, wo sich aber der gewagte Bogen zwischen diesen persönlich-seichten Themen, den gewichtigen Martin-Luther-King-Interludes und dem Albumtitel schließen soll, erschließt sich zu keiner Sekunde. In diversen Interviews plädierte Biebs für „Heilung und Gerechtigkeit auf einem kaputten Planeten“. Ohne Unterlass sprach er davon, Musik machen zu wollen, die den Menschen „Trost spenden und sie von ihrer Einsamkeit befreien sollte.“ Da beißt sich auf „Justice“ die Katze in den Schwanz, denn so ein inklusives Vorhaben kann nur dann gelingen, wenn man zuerst den Mittelpunkt der eigenen Egozentrik verlässt. Davon ist Bieber, seine guten Vorsätze und Gedanken dahingehend ausklammernd, meilenweit entfernt und neben der beliebig auf schnelle Hit-Tauglichkeit getrimmten Klanginszenierung fehlt letztlich auch im Songwriting das authentische Feeling, um an die Großen des Genres aufschließen zu können. Taylor Swift etwa hat letztes Jahr gleich zweimal bewiesen, wie man etwas ruhiger, aber würdevoller und tatsächlich sorgsam Corona-Trost in Form von starken Songs spendet.
Rein musikalisch holt Bieber wieder alles heraus, was irgendwie möglich ist. Features kommen von Kapazundern wie Chance The Rapper, Burna Boy, Khalid oder Dominic Fike. An den Songs und Beats schraubten u.a. Andrew Watt, die einstige EDM-Ikone Skrillex und Billie-Eilish-Bruderherz Finneas O’Connell. Rein technisch ist das state of the art und über alle Zweifel erhaben, aber ein richtiger Hit lässt sich nur schwer herausfiltern. Wie schon auf „Changes“ stolpert Bieber über die Beliebigkeit der einzelnen Songs, die nicht mal annähernd an die Stringenz seiner alten Nummern heranreichen. Auch wenn er sich auf „Justice“ deutlich mehr Freiheiten gönnt und das strenge Soundkorsett des Vorgängers verlässt. Es gibt Platz für R&B („Peaches“), Mainstream-Pop mit leichten Rock-Anleihen („Ghost“), die so populären 80s-Referenzen („Die For You“) oder erzwungen Sakrales („Holy“). All diesen Songs ist gemein, dass sie nicht im Ohr bleiben und im Direktvergleich kläglich an alte Hits wie „Sorry“ oder „Love Yourself“ scheitern.
Zahlreiche Widersprüchlichkeiten
Wenn man sich durch die mühevollen 45 Minuten gequält und alle textlichen Plattitüden überlebt hat, bleiben zu viele Fragen offen. Versucht Bieber mit „Justice“ tatsächlich ernsthaft und ironiefrei als politischer und gesellschaftspolitischer Künstler wahrgenommen zu werden? In einer Zeit, wo Bands wie Public Enemy, Sault oder Run The Jewels unmissverständliche Statements abgesetzt haben? Will er sich künstlerisch verstanden fühlen mit einer weiteren Palette an immergleichen, inhaltsduplizierenden Liedern über sein nicht enden wollendes Erwachsenwerden? Glaubt er wahrhaftig, er könne sich mit dem Album aus dem Schatten seiner Vergangenheit freistrampeln? „Justice“ wird auf TikTok und Spotify rotieren und so wie „Changes“ wenig bis keine Nachhaltigkeit besitzen. Das reicht locker für den Chart-Thron und weitere Millionen auf dem prallgefüllten Konto, aber noch lange nicht für Respekt und das heiß ersehnte Ernstgenommen werden als gereifte Persönlichkeit. Nebenbei haben die französischen Electro-Pioniere Justice Biebs wegen seiner Verwendung des Kreuzes beim „Justice-T“ im Albumtitel und beim Merchandise mit einer Unterlassungsklage eingedeckt. Willkommen in der Welt der Erwachsenen. Das Leben darin ist nicht immer angenehm.
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