Das große Interview

Sind Sie gern ein Gutmensch, Herr Schwertner?

Österreich
21.03.2021 06:10

Für die einen ist er ein Feindbild, für andere ein Held: Der Sozialmanager und Menschenrechtsaktivist Klaus Schwertner (44). Mit Conny Bischofberger spricht der geschäftsführende Caritas-Direktor der Erzdiözese Wien über Hass und Evangelium, Engagement und Ego, und die innere Quelle für sein Buch, das kommende Woche erscheint.

In „Magdas Hotel“ im Wiener Prater freut sich Geschäftsführerin Gabi Sonnleitner über ein paar außertourliche Gäste. Die Lockdown-Langeweile-Videos der Caritas-Einrichtung, die Ausbildungs- und Arbeitsplätze für Flüchtlinge schafft, wurden auf TikTok millionenfach angeklickt. In seinem grauen Kapuzenpulli, den Jeans und der roten Haube sieht Klaus Schwertner, der in einem Fünfziger Jahre-Sessel vor einem Verlängerten sitzt, wie der typische Stammgast des hippen Vorstadtlokals aus. „Die Haube stammt aus dem Caritas-Shop“, erklärt er - man kann schließlich nie genug Werbung machen -, „wer eine kauft, schenkt gleichzeitig einem Obdachlosen eine weitere. Das finde ich schön. Mir schenkt sie gerade in Krisenzeiten eine gewisse Geborgenheit und Wärme.“

Man kennt den umtriebigen Caritas-Manager als „Kämpfer für das Gute“, als einflussreichen Influencer in den sozialen Medien, als einen, der gerne seinen Kopf hinhält. Darüber hat Schwertner jetzt ein Buch mit dem Titel „Gut, Mensch zu sein“ geschrieben.

„Krone“: Was war nach 13 Jahren Arbeit für die Caritas der Impuls, ein Buch zu schreiben?
Klaus Schwerter: Ich trage diesen Gedanken schon lange mit mir herum. Nach dem „Flowerrain“, meiner Antwort auf den Shitstorm gegen das Wiener Neujahrsbaby, habe ich 2018 einen ersten Anlauf genommen. Aber damals waren die Kinder noch klein und meine Arbeit bei der Caritas - es ist wirklich die schönste Aufgabe der Welt! - ließ es nicht zu. Nach dem ersten Lockdown saß ich eines Abend als Letzter allein im Büro und dachte mir: Eigentlich gibt es keinen perfekten Zeitpunkt, ein Buch zu schreiben. Ich habe noch eine Nacht drüber geschlafen und am nächsten Morgen, um 6.23 Uhr, eine Mail an den Verlag geschrieben, dass ich es jetzt mache. Was war der Impuls? Dass es gerade in Krisenzeiten wichtig ist, ganz vielen Menschen Hoffnung und Mut zu machen. Ich glaube übrigens, das jeder Mensch ein Buch in sich trägt … Mindestens eines.

Und warum stehen Sie auf dem Buchcover am Kopf?
Lacht. - Weil ich jemand bin, der gegen den Strich bürstet, der wachrütteln will, der manchmal auch Kopf steht, in Momenten der Verzweiflung, die dann sehr schnell wieder in Energie und Veränderungswillen übergehen. Das Foto ist an einer Reckstange am Donaukanal entstanden.

Das Foto auf dem Buchcover ist an einer Reckstange am Donaukanal entstanden. (Bild: Peter Tomschi)
Das Foto auf dem Buchcover ist an einer Reckstange am Donaukanal entstanden.

Sie sind jemand, der sehr eindringlich schildern kann, was sich sozial in diesem Land abspielt. Woher kommt diese Unmittelbarkeit?
Aus meiner Kindheit und Jugend. Ich war einer, der sich als Kind gern im Kleiderkasten versteckt oder unter der Sitzbank des Esstischs verkrochen hat. Das würde heute keiner mehr vermuten. Schüchtern und unsicher, aber sensibel. Irgendwann habe ich gespürt, dass das auch eine Stärke ist. Spüren zu können, wie es anderen Menschen geht, empathiefähig zu bleiben, auch in extremen Situationen.

Extreme Situationen sind ein gutes Stichwort: Sie fahren an die EU-Außengrenzen in Flüchtlingslager, begleiten Streetworker zu Obdachlosen und besuchen Mutter-Kind-Häuser. Von der Not nicht zerfressen zu werden, wie schaffen Sie das?
Indem ich von den Menschen, die ich treffe, lerne. Vom obdachlosen Herrn, der leuchtende Augen hatte, weil er nach Jahren auf der Straße wieder ein eigenes warmes Bett bekommen hat und nervös war, ob er darin auch schlafen kann. Er hat sich vorsichtshalber seinen Schlafsack mitgenommen. Oder von den geflüchteten Menschen hier in „Magdas Hotel“. Sie haben so viele Stärken und Talente, die sie in unsere Gesellschaft einbringen können. Es sind die Mutmachgeschichten, die auch mir Mut machen. Und natürlich die starke Verankerung und Geborgenheit, die mir meine Familie, meine Frau und meine Kinder schenken.

Apropos Geflüchtete: Sie fordern auf Twitter in einer Endlosschleife, dass Österreich Familien aus den griechischen Flüchtlingscamps aufnehmen soll. Die Mehrheit der Bevölkerung ist der Ansicht, dass wir schon genug Menschen geholfen haben.
Es gibt in Österreich auch viele Menschen aus der Zivilgesellschaft, Bürgermeister, Pfarrgemeinden, die sich für eine geordnete Rettungsaktion stark machen. Ihr dringender Appell ist, zumindest 100 Familien mit kleinen Kindern aufzunehmen. Ich war selber in diesen Elendslagern und kriege jetzt wieder eine Gänsehaut, wenn ich daran denke. Niemals hätte ich gedacht, dass im Jahr 2021 auf europäischem Boden solche Zustände möglich wären.

(Bild: Alexander Bischofberger-Mahr)

In den Lagern wurden Feuer gelegt und es wurde auch über eine Vergewaltigung berichtet. Sehen Sie auch diese Seite?
Ich werde Gewalt niemals gutheißen, wenn das wirklich passiert ist - und das ist bis heute nicht restlos aufgeklärt - dann ist das inakzeptabel. Aber was in diesen Lagen auch passiert, ist strukturelle Gewalt. Wir urteilen oft sehr bequem von unserer Wohnzimmercouch aus über Menschen, die Krieg und Verfolgung erlebt haben. Und wir können es uns nicht vorstellen, was es dann bedeutet, in solchen Lagern in einer Art Geiselhaft der europäischen Politik zu sein.

Haben Sie eigentlich mit dem Bundeskanzler eine Gesprächsbasis?
Wir haben keinen regelmäßigen Kontakt. Aber wenn wir uns sehen - zuletzt war das beim Interview für krone-TV, dann gehen wir sehr korrekt miteinander um.

Aber überzeugen können Sie ihn wohl nicht?
Leider bis heute nicht. Aber wir haben als Caritas eine große Hartnäckigkeit. Kardinal Christoph Schönborn sagt ganz offen: „Nur eine lästige Caritas ist eine gute Caritas.“ Ich bin überzeugt, dass wir eine Politik brauchen, die sich nicht nur an Meinungsumfragen orientiert, sondern auch an Haltungen und Werten. Manchmal muss man auch Entscheidungen treffen, die nicht mehrheitsfähig sind. Das würde ich mir von der Politik wünschen und das betrifft nicht nur den Bundeskanzler.

„Lästig“ sind Sie auch auf Facebook, Twitter und Instagram. Trifft Sie der Vorwurf, Sie wären trotz allem Einsatz für andere auch ein genialer Selbstdarsteller?
Ja, natürlich trifft mich der. Ich nutze Social Media sehr stark für die Caritas, weil die Leute nicht mit Organisationen, sondern mit konkreten Menschen in Kontakt sein wollen. Und natürlich gibt es auch egoistische Gründe, Gutes zu tun. Es fühlt sich erstens gut an und man bekommt auch ganz viel zurück. Ich glaube auch, dass das nichts ist, wofür ich mich genieren müsste.

Wie halten Sie die Balance zwischen Egoismus und Engagement?
Es ist wichtig, ständig zu reflektieren. Die Caritas hat ihren Auftrag aus dem Evangelium. Nächstenliebe ohne Wenn und Aber. Not sehen und handeln. Und auf der anderen Seite der anwaltschaftliche Auftrag. Wenn ich zurückblicke, dann habe ich mich sicher manchmal im Ton vergriffen und unnötig polarisiert. Gerade soziale Medien verleiten ja dazu. Und dann geht es um die Frage, wie nahe man die Welt da draußen an sich heranlässt. Welche Verletzlichkeit man preisgibt. Und was bleibt privat?

Was waren Ihre größten Fehler?
Das waren mehrere Sachen. Ich schreibe das in meinem Buch sehr explizit. Ich habe in Traiskirchen Fotoaufnahmen gemacht, obwohl ich versprochen hatte, es nicht zu tun. Ich sah damals keine andere Möglichkeit, Missstände aufzudecken. Gleichzeitig fühlt es sich bis heute nicht gut an, dass ich Wort gebrochen habe und das hinter dem Rücken des Kardinals und eines hochrangigen Beamten. Das war das eine. Ein Fehler war auch, dass ich mit meiner Aktion auf dem Life Ball viele Menschen vor den Kopf gestoßen habe und das sicher nicht meine Absicht war.

Sie sind auch mit viel Hass im Netz konfrontiert. Wie halten Sie das aus?
Das ist leider tägliche Realität. Wobei 99 Prozent der Rückmeldungen positiv sind. Das sind Menschen, die fragen, wie sie helfen können, oder auch, sehr schambehaftet, fragen, wo sie Hilfe bekommen können. Und dann gibt es auch dieses eine Prozent. Stichwort: „Handylüge“. Die Lüge, dass die Caritas iPhones an Flüchtlinge verschenke, hat sich im Netz verbreitet. Wir haben lange dementiert und aufgeklärt, aber irgendwann erkennen müssen, dass nur noch Klagen hilft, um rote Linien aufzuzeigen. Und ich habe auch persönliche Angriffe erlebt.

Was war das Schlimmste?
Jemand hat mir gewünscht, dass meine Frau und Tochter vergewaltigt werden. Mit vollem Namen. Das hat mich wirklich erschüttert. Normalerweise suche ich den Kontakt zu solchen Menschen, aber in diesem Fall habe ich nicht auflösen können, was den Mann dazu gebracht hat, mir so etwas zu wünschen.

(Bild: Peter Tomschi)

Was hilft gegen den Hass?
Wir dürfen nicht zulassen, dass die sozialen Medien zu asozialen Medien werden, dass Wut, Hass und Gewalt mittels Algorithmen gepusht werden, wir müssen dem etwas entgegenhalten, selbst dann, wenn wir uns oft sehr klein fühlen. Keiner muss eine Heldin oder ein Held sein, sondern es genügt, Mensch zu sein. Ich würde mir eine Gesellschaft wünschen, die Menschen nicht nur eine zweite, sondern auch eine siebte oder siebzehnte Chance gibt. Weil wir oft nicht dahinter schauen können, welchen Rucksack an Problemen und schlimmen Erfahrungen sie vielleicht schon seit frühester Kindheit mit sich herumtragen und ständig wird noch ein Pflasterstein reingeladen, und der Rucksack wird immer schwerer und schwerer.

„Gut, Mensch zu sein“ ist auch der Titel Ihres Buches. Sind Sie gern ein Gutmensch?
Ganz klares Ja! Es ist alles andere als naiv, ein guter Mensch zu sein, diese Welt jeden Tag ein Stück menschlicher, gerechter und heller zu machen. Ich glaube auch, dass wir uns den Begriff „Gutmensch“ wieder zurückerobern müssen. Ich habe mich früher ab und zu geärgert, wenn man Menschen damit lächerlich machen und diffamieren wollte. Ich lasse das für mich heute nicht mehr zu.

Was hat jemand wie Sie eigentlich für eine Karriereplanung?
Meine Karriereplanung war, Kinderarzt zu werden.

Und heute? Würde es Sie reizen, zum Beispiel Sozialminister der Grünen zu werden?
Ich bin von mehreren Parteien gefragt worden, ob ich in die Politik gehe und habe mich immer dagegen entschieden.

Wäre das ein zu enges Korsett für Sie?
Ich will das nicht kategorisch ausschließen, aber aufgrund der Erfahrungen, die ich mit der Politik gemacht habe, bin ich bis heute froh über meine Entscheidung. Als Caritas sind wir weder schwarz noch pink noch türkis noch rot.

Blau haben Sie jetzt nicht genannt.
Grün habe ich auch nicht genannt. Normalerweise nenne ich alle Farben der Größe nach hintereinander. - Lacht. - Manchmal haben wir mehr Übereinstimmung mit den Parteiprogrammen oder den Positionen von Parteien und manchmal weniger. Unser Motto lautet: So viel Dialog wie möglich, so viel Kompromiss wie notwendig, aber auch so viel Klarheit und so viel Abstand wie erforderlich.

Im Buch schreiben Sie auch über Ihren Glauben. Wann haben Sie zuletzt gebetet?
Immer wieder. Besonders erinnere ich mich an einen Moment während des ersten Lockdowns. Die Mutter einer Freundin lag im Sterben, da ist es mir gar nicht gut gegangen, weil ich die Verletzlichkeit gespürt habe in einer sehr belastenden Zeit. Ich bin auf den Leopoldsberg gefahren und habe mir dort den Sonnenaufgang angeschaut, inne gehalten und ich habe auch gebetet. Das Spannende war, dass ich dort ein Paar kennengelernt habe, das mir in dieser Situation unglaublich viel Kraft gegeben hat. Ich bete selten in Kirchen, sondern immer dort, wo ich gerade eine innere Ruhe finde.

Klaus Schwertner: „Wir sitzen in einem Boot. Das Virus betrifft uns alle.“ (Bild: Peter Tomschi)
Klaus Schwertner: „Wir sitzen in einem Boot. Das Virus betrifft uns alle.“

Wenn Sie einen Tag die Welt regieren dürften, was würden Sie machen?
Puh. Das ist eine große Frage. - Denkt nach. - Die ist wirklich groß. Ich würde mich gut auf diesen Tag vorbereiten, weil ich mehrere Botschaften formulieren möchte. Es fällt mir gerade schwer, das zu priorisieren. - Denkt weiter nach. - Ich glaube, ich würde an diesem Tag alles unternehmen, um das Pflänzchen Demokratie zu stärken, zu pflegen, zu düngen, dass es weiter wachsen kann. Ich würde die Waffenexporte einschränken und das Geld umleiten. Und möglichst vielen Menschen bewusst machen, dass wir alle in einem Boot sitzen. Wir merken das gerade in dieser Pandemie wieder so stark. Das Virus betrifft uns alle. Die Gesundheitskrise ist auch eine soziale Krise, eine Wirtschaftskrise, eine psychosoziale Krise, eine Bildungskrise. Und wir kommen nur gemeinsam und miteinander, nicht gegeneinander, aus dieser Krise heraus. Ich würde alles unternehmen, dass die Kosten dieser Krise nicht die Ärmsten in der Gesellschaft tragen dürfen. Alleinerziehende, kinderreiche Familien, Mindestpensionisten und damit bin ich wieder bei den Menschen, die sich hilfesuchend an die Caritas wenden.

Zur Person: Influencer und Vater
Geboren am 22. 10. 1976 in Wien. Schwertner studiert Gesundheitsmanagement. 2008 kommt er zur Caritas, seit 2013 ist er Geschäftsführer und Geschäftsführender Caritas-Direktor der Erzdiözese Wien. Der Influencer lebt mit Julia, die Volksschullehrerin ist, in Klosterneuburg, NÖ. Das Paar hat vier Kinder: Matilda (5), Valentin (11), Severin (13) und Moritz (22). Sein Buch „Gut, Mensch zu sein“ (192 Seiten, ISBN 978-3-222-15065-4, 23 €) erscheint am 22. 3. im Molden Verlag.

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