Mit Bedroom-Pop in den Genre-Olymp - das prophezeien norwegische Experten der 22-jährigen Marie Ulven, die als Girl In Red nicht nur über Nacht (und TikTok) zu einer queeren Ikone wurde, sondern mit ihrem Debütalbum „If I Could Make It Go Quiet“ auch eine Lanze für mentale Krankheiten bricht. Dafür holte sie sich prominente Unterstützung, wie sie im Gespräch mit der „Krone“ verriet.
Bedroom-Pop, Seelenstriptease und das Internet - eine Kombination, die bei einer ganzen Generation interessanter Künstlerinnen schon seit einigen Jahren für Erfolg garantiert. Anno 2021 braucht man kein großes Label oder abendfüllende Alben mehr, da reichen Singles, Botschaften und die richtige Selbstvermarktung. Billie Eilish ist mit ihrem Major-Megadeal eine Ausnahme, doch Musikerinnen wie Clairo, Soccer Mommy, King Princess oder eben die Norwegerin Marie Ulven aka Girl In Red lauern dahinter und haben keine Lust mehr auf herkömmliche Zugangsweisen. Soundcloud, Bandcamp und TikTok statt Universal Music, CDs im Media Markt und fossile Vermarktungsplattformen á la Facebook. Doch für Ulven hat sich der frühe Erfolg vor drei Jahren gar nicht ausschließlich mit Musik manifestiert, denn ihre auch von der „New York Times“ geadelte Single „I Wanna Be Your Girlfriend“ machte die bekennende Lesbe über Nacht zu einem Idol der queeren Szene. Das kam abrupt und überraschend, stört die heute 22-Jährige aber naturgemäß nicht. Die im Netz gestellte Frage „Do you listen to Girl In Red?“ impliziert nämlich nicht per se den Kulturgenuss der Künstlerin, sondern steht sinnbildlich für die Frage „bist du lesbisch?“
Raus aus der Box
Ihr dieser Tage erscheinendes Debütalbum „If I Could Make It Go Quiet“ kehrt aber bewusst von der Queerness-Botschaft ab. „Ich will damit nicht aus etwas ausbrechen, sondern einfach so weitermachen, wie ich bin“, erklärt Ulven im Interview mit der „Krone“, „natürlich wollen manche Leute immer wieder ein neues ,I Wanna Be Your Girlfriend‘ hören und mich in eine Schublade stecken, aber das kann nicht mein musikalischer Ansatz sein. Ich kann auch nicht aus einer Box ausbrechen, in der ich mich eigentlich nie befand, obwohl die Leute mich dort einsortieren wollten. Meine musikalische Reise läuft seit etwa acht Jahren und ich setze sie einfach fort.“ Für den Albumprozess verließ sie nach gefeierten EPs und zahlreichen Award-Nominierungen in der norwegischen Heimat ihr Schlafzimmerstudio bei Oslo, um ins gut sechs Stunden entfernte Bergen zu fahren, wo sie an der norwegischen Westküste mit Koproduzent Matias Telles am Debütwerk schraubte.
Den frühen Karriere-Tornado hat Ulven bislang unbeschadet überstanden, die Corona-Pandemie hat aber auch kräftig Wind aus den Segeln genommen. „2019 war ich auf Tour mit Clairo und da hatte ich einmal einen Moment, wo ich nicht genau wusste, was überhaupt gerade geschieht“, lacht sie beim Zoom-Call, „ich habe mir aber sofort vergegenwärtigt, dass es da draußen eine normale Welt gibt und man immer weitermachen muss. Ich denke, dass ich einen sehr bodenständigen und realistischen Blick auf die Musikwelt habe.“ Ulven begann aus ihrer Teenager-Tristesse und dem mangelnden Zugehörigkeitsgefühl heraus mit etwa 13 auf der Gitarre zu klimpern und brachte sich ohne musikalischen Background in der Familie alles selbst bei. Anfangs musizierte sie unter ihrem eigenen Namen, dann legte sie sich das Pseudonym Girl In Red zu. Ohne große Hintergedanken, Marie Ulven klang ihr für eine Künstlerkarriere schlicht zu langweilig. Das Debütalbum bezeichnet die Musikerin bedeutungsschwanger als „Girl In Red 2.0“, auch wenn sie die Begrifflichkeit auf Nachfrage nicht wirklich erklären kann.
Eklektisch und zusammenhängend
„Durch die Pandemie hatte ich viel mehr Zeit für das Album, denn gut die Hälfte davon entstand in den Lockdown-Monaten. Die Songs standen im Großen und Ganzen zwar schon vorher, aber ich hatte dann ausreichend Zeit, diverse Refrains und Strophen zu überarbeiten. Das alles hätte ich nie so gemacht, wäre ich, wie geplant, ganz 2020 auf Tour gewesen.“ Wie in ihrem musikalischen Dunstkreis üblich, lässt sich Girl In Red nicht bloß auf einen Stil festlegen. Das Fundament ist knackiger 90s-Indie, aber auch Punk-Gestus, Rock, elektronische Elemente und sogar Rap finden ihren Platz. „If I Could Make It Go Quiet“ schafft das Kunststück, eklektisch und zusammenhängend zugleich zu klingen. „Die vielen verschiedenen Sounds spiegeln meinen Zugang als Produzentin wider. Vielseitigkeit fühlt sich für mich ganz natürlich an und sie reflektiert mich als Musikerin perfekt. Für mich ist Musikmachen stets eine Bauchentscheidung. Habe ich Lust auf Rock, entsteht ein Rocksong. Will ich mehr nach Indie klingen, geht’s in diese Richtung. Wenn das Bauchgefühl passt, dann können die Songs auch in die weite Welt hinausgehen.“
So locker-flockig wie Ulvens Analysen sind die Songs aber nur im Soundgewand. Inhaltlich entdeckt man eine verletzte Seele, die nostalgisch in die Vergangenheit blickt, über zerbrochene Beziehungen sinniert, die eigenen Ängste und Panikattacken in den Fokus rückt und nicht einmal mit Suizidgedanken hinterm Haus hält, die sie lange plagten. „Solche Gedanken gehen wohl nie ganz weg, aber ich habe gelernt, damit umzugehen. Da ein Teil meines Selbst mit dieser mentalen Unsicherheit umzugehen lernte, konnte ich auch darüber schreiben.“ Ulven verarbeitet die Gedanken in der Single „Serotonin“, die von niemand Geringerem als Finneas O’Connell, Erfolgsproduzent und Bruder von Billie Eilish, begleitet wurde. „Wir haben uns bei einer Award-Verleihung kennengelernt und uns den Song sehr oft hin- und hergeschickt, bis er schließlich die richtige Farbe hatte. Der Song beinhaltet auch meinen ersten Rap-Part, was gar nicht einfach zu machen war, weil man durch die Gesangsgeschwindigkeit ganz anders schreiben muss.“
Emotionspalette
Wie für viele andere Künstlerinnen ist es auch für Ulven nicht schwierig, mit ihren persönlichen Gedanken und Problemen nach außen zu gehen. Empowerment und Offenheit sind die Botschaften, die auf dem Album nicht nur ihr, sondern auch betroffenen Hörerinnen helfen sollten. „Verletzlich zu sein ist nie einfach und Songs wie ,Rue‘ stehen mir sehr nahe. Jeder Song hat eine andere Emotionalität. Manchmal ist er traurig, manchmal wütend, manchmal fröhlich. Wichtig war mir aber immer, das Positive hervor zu streichen. Ein Album muss einen Spannungsbogen haben, durch alle Emotionen gehen und Abwechslung bringen. Deshalb liebe ich dieses Format auch so sehr.“ Girl In Red verwandelt vermeintliche Schwächen in Stärken und steht für eine mutige und aktive Generation junger Songwriterinnen, die sich inhaltlich und musikalisch Gehör verschaffen. „Wir alle haben Schwächen und machen Fehler. Es liegt aber an uns, etwas Gutes daraus zu machen oder sie in etwas Gutes zu verwandeln.“ Die Reise hat gerade erst begonnen.
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