Bald 20 Mio. infiziert
Corona-Chaos in Indien „nicht mehr kontrollierbar“
Indien steuert rasant auf die Schwelle von 20 Millionen Corona-Ansteckungen zu. Das Gesundheitsministerium meldete am Montag 368.147 Neuinfektionen und damit den zwölften Tag in Folge mehr als 300.000 neue Fälle binnen 24 Stunden. Die Spitäler sind heillos überlastet, Angehörige suchen verzweifelt für schwer kranke Familienmitglieder nach Krankenhausbetten und Sauerstoff. Die Krematorien arbeiten auf Hochtouren. „Chaos! Es ist viel zusammengefallen, was einfach ganz schwierig ist“, beschreibt Indien-Expertin Eva Wallensteiner die Lage.
Für die Dreikönigsaktion (DKA) der Katholischen Jungschar wickelt Wallensteiner Entwicklungshilfeprojekte in Indien ab, die mit dem Geld finanziert werden, die Österreicher alle Jahre rund um Weihnachten den Sternsingern spenden. „Ich glaube, es ist nicht mehr kontrollierbar.“ Das Gesundheitsministerium meldete am Montag den zwölften Tag in Folge mehr als 300.000 neue Fälle binnen 24 Stunden. Am Samstag war sogar erstmals mit mehr als 400.000 Neuinfektionen erneut ein weltweiter Höchstwert registriert worden. Damit stieg die Gesamtzahl der bestätigten Infektionen in dem Land mit rund 1,35 Milliarden Einwohnern auf 19,93 Millionen.
Regierung verlautbarte im März, man habe Corona besiegt
Die Zahl der Todesfälle erhöhte sich um 3417 auf 218.959. Nur die USA und Brasilien weisen mehr auf. Experten befürchten aber bei Infektionen und Todesfällen eine hohe Dunkelziffer. Dabei hatte Indien mit seinen 1,3 Milliarden Menschen die erste Welle der Pandemie im Vorjahr „ziemlich gut“ überstanden, so Wallensteiner im Gespräch mit der APA. Seit September des Vorjahres mit - im weltweiten Vergleich wenigen, aber bei wenigen Testungen - 90.000 Infizierten sei die Zahl der Betroffenen auf 11.000 pro Tag zurückgegangen. Heuer im März habe die Regierung schließlich verlautbart, Corona sozusagen besiegt zu haben.
„Da war die Hoffnung so groß.“ Niemand habe sich einfach auch vorstellen wollen, was passiert in einem solchen Land, wo nur wenige Möglichkeiten haben sich zu isolieren, nicht im Homeoffice arbeiten können, „zu sechst, zu acht zu zehnt nur einen Raum zur Verfügung haben“. Während in Europa vielerorts harter Lockdown herrschte und die Intensivstationen drohten, an ihr Limit zu geraten, seien in Indien Hochzeiten gefeiert worden, die Menschen seien normal ihrer Arbeit nachgegangen, „und aus Indien hörte ich: ,No problem!‘ Und ich sehe auf den Bildern keine Masken mehr, keinen Abstand mehr“, sagt Eva Wallensteiner, die auch für die Katholische Frauenbewegung tätig ist. Zugleich hätten alle gewusst, das vergleichsweise wenig getestet wird und die Zahlen mit Vorsicht zu genießen waren. „Es war eine schlafende Gefahr.“
Nur lockere Maßnahmen, Massenfeste, wenig Impfungen
Es war laut der 52-Jährigen ein „Gemisch“ aus pandemischen und menschengemachten Faktoren, das zu der dramatischen und tödlichen Eskalation der vergangenen paar Wochen geführt hat. Sie nennt religiöse Feste mit Massenandrang, die nicht abgesagt wurden, die Mutationen, Regionalwahlen, die in fünf Unionsstaaten, die mit Versammlungen einhergingen, nur lockere und von vielen nur schwer einzuhaltende Anti-Covid-Maßnahmen, eine verschlafene Impfkampagne.
Dahinter stehe ein Narrativ vom Krisen-gewöhnten und -erprobten Indien, von Indien als „Apotheke der Welt“, das mit Blick auf Impfstoffe und Medikamente gut aufgestellt ist, von der Widerstandsfähigkeit der Inder, von ihrem Sieg über Pest und Polio durch die Durchimpfung in den letzten zwei Jahrzehnten, von einer vermeintlich bereits erreichten Herdenimmunität, von einer jungen Bevölkerung mit eher milden Krankheitsverläufen, von einem für die Ausbreitung des Coronavirus ungünstigem Klima. „Die Hoffnung war nicht ganz unbegründet, aber sie war trügerisch. Die Menschen sind unvorsichtig geworden.“
Nicht alle Faktoren für die Eskalation seien jedoch hausgemacht, betont Wallensteiner. Laut Experten sei zwar die wertvolle Zeit zwischen der ersten und jetzigen zweiten Welle für eine groß angelegte Impfaktion ungenutzt verstrichen und es seien keine zusätzlichen Pharma-Produktionsstätten errichtet worden. Andererseits sei auch Indien auf Pharma-Rohstoffe aus anderen Ländern angewiesen, die nicht geliefert wurden. Indien habe auch viele antivirale Medikamente exportiert, die nun im eigenen Land fehlen. So werden nun Arzneimittel aus den USA „rückimportiert“. Auch Test-Kits sind Mangelware in der „Apotheke der Welt“.
Die Reichen „suchen das Weite“
Drei Bekannte in Indien hat Eva Wallensteiner in den vergangenen Wochen durch Covid-19 verloren. Die Krisenmaschinerie der Regierung sei angesprungen. Unterdessen horteten jene, die daran kommen, Sauerstoff bei sich zu Hause, für den Fall, dass sie selbst erkranken. Und immer mehr indische Millionäre und Milliardäre kaufen sich Aufenthaltstitel im Ausland und „suchen das Weite“.
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