Gordischer Knoten

Israel-Konflikt: Der Kampf um Jerusalem

Ausland
14.05.2021 18:23

Eine neue Gewaltwelle erschüttert seit Tagen Israel, der Konflikt mit den Palästinensern eskaliert zusehends. Über 120 Tote sind bereits zu beklagen.1800 Raketen aus dem Gazastreifen lösten bei den Israelis einen Schock aus. Doch wie konnte es so weit kommen? Die Weltpolitik hatte zu lange weggeschaut ...

So schnell kann es gehen! So rasch entlädt sich neue Gewalt in einem Jahrhundertkonflikt, wenn die internationale Politikergemeinschaft über Jahre wegschaut, weil sie das Interesse daran verloren hat. So plötzlich steht der Nahost-Konflikt wieder an der Krisenspitze der Welt, weil diese „Ruhe“ nur eine trügerische und der Vulkan nie erloschen war. Unter dem Vulkan staute sich die Wut von Millionen palästinensischer Jugendlicher (Bevölkerungsexplosion!) ohne Zukunftsperspektive.

Jerusalem als Gordischer Knoten
Das Jerusalem mit seinen zwei Hauptstadtansprüchen ist der Gordische Knoten eines Konflikts, der heißt: „Dein Land ist mein Land.“

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Zehn Maß Schönheit kam auf die Erde herab. Jerusalem bekam davon neun, die übrige Welt eins. Zehn Maß Leid kam auf die Erde herab. Jerusalem bekam davon neun.

Aus dem Babylonischen Talmud

Frustrierte Jugend zündete den Funken
Dieser jüngste Konflikt brodelte schon seit einem Monat. Als Ausgangspunkt gilt der Beginn des Fastenmonats Ramadan. Palästinenser in Jerusalem reagierten zornig, als die israelische Polizei Sperrzäune vor dem Damaskustor aufstellte. Dies hinderte sie daran, sich auf Treppenstufen des Vorplatzes zu setzen, der als beliebtester Treffpunkt gilt. Viele junge Palästinenser im arabisch geprägten Ostteil der Stadt sahen darin eine Demütigung.

Ein Jugendlicher mit der Flagge der radikalislamischen Hamas vor dem Felsendom (Bild: AFP)
Ein Jugendlicher mit der Flagge der radikalislamischen Hamas vor dem Felsendom
Palästinenser vor dem Felsendom (Bild: AFP)
Palästinenser vor dem Felsendom

Die Palästinenser werfen der Polizei auch vor, auf dem Tempelberg (arabisch: Al-Haram al-Scharif – Das Allerheiligste) extrem gewaltsam gegen Muslime vorgegangen zu sein. Die Anlage mit dem Felsendom und der Al-Aksa-Moschee ist drittheiligste Stätte im Islam. Sie ist aber auch Juden heilig, weil dort der Tempel stand.

(Bild: APA-Grafik/picturedesk.com)

Provokateure heizten den Konflikt an 
Nach israelischer Darstellung haben palästinensische Extremisten die Krawalle lange vorbereitet und in der Moschee auch Steine gehortet. Die militante Hamas sieht in Gewalt ein Mittel, den Machtanspruch gegen die verkalkte Führung der Palästinenserregierung an sich zu reißen.

Vor dem Freitagsgebet kam es zu Zusammenstößen vor der Felsenmoschee am Tempelberg. (Bild: AP)
Vor dem Freitagsgebet kam es zu Zusammenstößen vor der Felsenmoschee am Tempelberg.
Am Freitag versuchten israelische Sicherheitskräfte, Muslime vom Gebet in der Al-Aqsa-Moschee abzuhalten. (Bild: AP)
Am Freitag versuchten israelische Sicherheitskräfte, Muslime vom Gebet in der Al-Aqsa-Moschee abzuhalten.

Gewalt geht immer von Extremisten (aller Seiten) aus. Die Frage ist nur, wie viele den Gewaltaufrufen folgen. Es waren diesmal viele.

Ent-Arabisierung von Ostjerusalem
Für Zunder sorgt auch eine neue drohende Zwangsräumung von palästinensischen Familien. Siedler beanspruchen Haus und Grund, der vor der Unabhängigkeitserklärung Israels 1948 Juden gehört hat.

Dazu der palästinensische Politologe Dschihad Harb: „Es herrscht ein Gefühl der großen Verzweiflung wegen der schleichenden Ent-Arabisierung. Es gibt keine Perspektive, keine Friedensverhandlungen, keine politische Lösung.“ Der Traum eines unabhängigen Palästinenserstaates sei immer weiter in die Ferne gerückt, während Israel seine Siedlungen ausbaue.

Kriege, nur unterbrochen von kurzer Friedenszeit
Ein weiterer Grund für den Frust unter jungen Palästinenser: die Absage der für den 22. Mai geplanten Parlamentswahl. Es wären die ersten seit 15 Jahren gewesen und die ersten für jeden zweiten(!) Palästinenser. So groß ist der Jugendanteil.

Junge Musliminnen vor dem Felsendom auf dem Tempelberg (Bild: AP)
Junge Musliminnen vor dem Felsendom auf dem Tempelberg

Der Chef der palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmud Abbas, nannte als Grund, dass Israel Wahlen in Ost-Jerusalem nicht zulasse. Manche sehen darin jedoch eine Ausrede, mit der der 85-Jährige eine Niederlage seiner zersplitterten, einst von Arafat gegründeten Fatah-Bewegung verhindern will.

Autoritätsverfall auf beiden Seiten
Ebenso wie Palästinenser-Präsident Abbas verzeichnet auch Israel-Premier Benjamin Netanyahu einen schleichenden Autoritätsverfall. Beiden kommt die Ablenkung der Öffentlichkeit nicht ungelegen.

Seit Gründung des Staates Israel kommt es immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen. Der erste Nahostkrieg war für Israel ein Unabhängigkeitskrieg – für 700.000 Palästinenser hingegen der Beginn der „Nakba“, ihrer Flucht und Vertreibung (begleitet von Flucht und Vertreibung von ebenso vielen Juden aus arabischen Ländern).

29. November 1947: Die UNO beschließt die Teilung des britischen Palästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat. Die Juden stimmen zu, die Araber lehnen ab.

14. Mai 1948: David Ben Gurion verliest die Unabhängigkeitserklärung. Am Tag darauf erklären die arabischen Staaten den Krieg. Im Kampf kann der neue Staat sein Territorium vergrößern und den Westteil von Jerusalem erobern.

Oktober 1956: In der Suez-Krise kämpfen israelische Truppen an der Seite Frankreichs und Großbritanniens um die Kontrolle des Suez-Kanals, den Ägypten zuvor verstaatlicht und für Israel gesperrt hatte.

Juni 1967: Im Sechstagekrieg gegen arabische Bedrohung erobert Israel schließlich den Gazastreifen, das Westjordanland, Ostjerusalem und die Golanhöhen.

Oktober 1973: Araber setzen im Yom Kippur zur Rückeroberung an. Nur unter schweren Verlusten gelingt es Israel, den Angriff abzuwehren.

März 1979: Israels Regierungschef Menachem Begin und Ägyptens Präsident Anwar as-Sadat schließen einen von den USA vermittelten Friedensvertrag.

Juni 1982: Israel greift PLO im Libanon an und marschiert ins Nachbarland ein.

Dezember 1987: Ausbruch des ersten Palästinenseraufstands „Intifada“ („Abschüttelung“).

September 1993: Israels Ministerpräsident Jitzchak Rabin und PLO-Chef Jassir Arafat unterzeichnen die Oslo-Friedensverträge.

4. November 1995: Rabin wird nach einer Friedenskundgebung in Tel Aviv von einem jüdischen Fanatiker erschossen.

September 2000: Nach einem provokativen Besuch des damaligem Oppositionsführers Ariel Sharon auf dem Tempelberg in Jerusalem bricht die zweite Intifada aus.

2003: Israel beginnt mit dem Bau einer 750 Kilometer langen Antiterror-Sperranlage. Zäune und Mauern verlaufen zum Teil auf palästinensischem Gebiet.

Die „Anti-Terror-Mauer“ zwischen Israel und dem Palästinensergebiet (Bild: ABIR SULTAN)
Die „Anti-Terror-Mauer“ zwischen Israel und dem Palästinensergebiet

August 2005: Israel räumt den Gazastreifen.

Juli 2006: Israel und die Hisbollah im Libanon liefern einander einen einmonatigen Krieg.

Juni 2007: Die Hamas vertreibt die Fatah von Mahmud Abbas aus dem Gazastreifen.

Jahreswende 2008 bis 2014: In drei Konflikten bekriegen sich Israel und die Hamas im Gazastreifen.

Dezember 2017: Der damalige US-Präsident Donald Trump verkündet den Umzug der US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem.

Jänner 2020: Trump und Netanyahu präsentieren einen Nahost-Friedensplan. Die Palästinenser sehen das Völkerrecht verletzt.

Regierungschef Netanyahu hätte zu Beginn der Ramadan-Krise noch die Möglichkeit gehabt, die Eskalation durch weniger harte Hand - Sturm auf die Al-Aksa-Moschee während des Ramadan-Gebets - zu entschärfen. Er hat sie nicht genutzt oder nicht erkannt. Jetzt sprechen die Waffen, und danach bleibt das Grundproblem ungelöst wie vorher. Zu viele Strippenzieher glauben, dass der Gegner nur die Sprache der Gewalt versteht.

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