In seiner Serie „Die Letzten“ porträtiert der Autor Robert Schneider Menschen, die einem alten Handwerk oder einer alten Kulturtechnik nachgehen. Neulich hat er den Orgelbauer Christoph Enzenhofer getroffen.
Seine Gesichtszüge drücken etwas berührend Weiches aus, eine geradezu kindliche Schutzlosigkeit. Die schulterlangen, graukrausen Haare stehen so im Widerspruch zu den jugendlichen Augen, die vor Begeisterung aufstrahlen, wenn er zu reden anfängt. Dennoch umgibt den ganzen Mann etwas Abgeklärtes, etwas, das mir sagt: Ich habe viel geliebt, viel gelitten.
Ich bin mit dem legendären Orgelbauer Christoph Enzenhofer an dem Ort verabredet, wo er seine erste Orgel gebaut hat, die er ganz allein zu verantworten hatte - in Lustenau-Hasenfeld. Der sechseckige Zentralbau aus den frühen 70er-Jahren mit Waschbetonwänden und einer niedrigen Dachkonstruktion aus stierblutfarbenen Stahlrohren muss wohl eine gewaltige Herausforderung für einen Orgelbauer gewesen sein, frage ich. „Gar nicht“, winkt Enzenhofer ab. „Immer, wenn ich einen Kirchenraum besichtigt habe, sah ich nach wenigen Minuten das Instrument vor mir stehen. Viel wichtiger noch: Ich hörte die neue Orgel. Die visuelle wie akustische Vorstellungskraft ist vielleicht das einzige Talent, das ich habe“, sagt der nunmehr pensionierte Meister der Pfeifen, Windladen, Tonventile und Registerzugschleifen, der Umlenkungen, Tasten, Winkel, Wippen, Wellen und Abstrakten, der zahllosen Einzelteile, die ein so hochkomplexes Instrument ausmachen.
Die visuelle wie akustische Vorstellungskraft ist vielleicht das einzige Talent, das ich habe
Christoph Enzenhofer
Im Bauch der Orgel
Der Komponist Paul Hindemith hat die klangliche Idee einmal so beschrieben: „Es ist wie mit einem nächtlichen Gewitter. Da zuckt ein Blitz auf und erhellt die ganze Landschaft. Ich taste in der Dunkelheit jener Landschaft nach, die ich einen Augenblick lang klar gesehen habe.“ Bereitwillig öffnet Enzenhofer für den Fotografen und mich das kostbare Instrument, lässt uns gewissermaßen in den Bauch der Orgel sehen. Sofort sticht eines ins Auge: Selbst die kleinsten Teile, die normalerweise nicht sichtbar sind, wurden mit ungemeiner Liebe und Sorgfalt gearbeitet. „Natürlich sieht das keiner. Aber das mit dem Gesehenwerden ist so eine Sache“, lächelt der Orgelbauer verschmitzt. „Ich sehe es, und der da oben sieht’s noch vor mir.“
Genauigkeit, Geduld - und jede Menge Zeit
Genauigkeit, Geduld und Zeit waren die obersten Maximen seines handwerklichen Daseins, meint Enzenhofer, der ohne ein Initialerlebnis, einfach von heute auf morgen, beschlossen hat, Orgelbauer zu werden. Gegen den Willen der Eltern machte er eine Lehre bei Josef Glatter-Götz (Rieger Orgelbau) in Schwarzach. Aber der große Betrieb machte ihn nicht glücklich. Er wollte seine eigene Stimme finden und hören, machte die Abendmatura in Graz, als sich psychische Probleme einstellten, die ihn ein Leben lang begleiten sollten.
Die Krankheit miteinkalkuliert
Endogene Depression. „Ich war oft im Irrenhaus, in der Valduna, du darfst das ruhig so schreiben“, sagt er ganz nüchtern. Dabei schaut er mir offen in die Augen wie einer, der nicht herummachen muss, sich verstecken oder eine Show spielen. „Aber die großen Dinge im Leben geschehen einfach so, ohne dass man dafür kämpfen muss. Nur die unwichtigen verschwenden so viel Lebenszeit.“ Er habe, als er selbstständig geworden sei, das Glück gehabt, auf Auftraggeber zu treffen, die seine Krankheit miteinkalkuliert hätten, sogar auf die Gefahr hin, dass das Instrument nie fertig werde. „An einer Orgel habe ich zwei bis drei Jahre gebaut. Das war Geboren-, Erwachsenwerden und Sterben zugleich. Wenn ich dann in Depressionen verfiel, ging es einfach nur noch darum, zu überleben, es auszuhalten mit mir.“
Ich war oft im Irrenhaus, in der Valduna, du darfst das ruhig so schreiben
Christoph Enzenhofer
Alles aus einer Hand, Detail für Detail
Alles, mit Ausnahme der Metallpfeifen, hätten er und seine zwei Mitarbeiter in der Werkstatt in Bludesch selbst gemacht. Wenn möglich aus Holz. Die Holzlisten und Pfeifentabellen und anderen Teile habe er noch mit Normschrift auf Transparentpapier gezeichnet und geschrieben. Das seien pro Orgel 40 bis 50 Blätter gewesen, in einer Zeit, da es noch keine Computerprogramme dafür gab. Stunden-, ja tageweise habe er an der Bohrmaschine gesessen und Löcher gebohrt, die kaum größer als einen Millimeter waren. „Oder das endlose Schleifen! Das ist nicht nur Schleifen. Es geht darum, dem Stück Holz die Würde zu geben, die ihm zusteht.“
„Geborenwerden und Abschied nehmen zugleich“
Enzenhofer erzählt mit einer Wärme und Offenheit, die mich wirklich beeindruckt. „Bei diesen scheinbar stupiden Tätigkeiten musste ich mir jene Dinge in mir ansehen, die ich nicht sehen wollte. Und gleichzeitig war es auch eine Art Therapie. Ich musste nicht mehr denken, nicht mehr ewig denken.“ Wie es gewesen sei, wenn eine „Enzenhofer“ zum ersten Mal erklungen sei, will ich abschließend wissen. „Ich habe viele Jahre mit dem wunderbaren Helmut Binder zusammengearbeitet. Er ist ein Hörender und großer Organist. Wir haben gemeinsam, oft bis tief in die Nacht, jedes Register, Ton für Ton abgehört, Klangfarbe und -stärke so lange geändert, bis alles sauber ansprach und zu dem Klang fand, den ich ganz am Anfang im Ohr hatte. Während Helmut dann präludierte, saß ich unten im dunklen Kirchenschiff, und plötzlich liefen mir die Tränen über die Wangen. Es war Geborenwerden und für immer Abschied nehmen zugleich.“
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