Julia Falkner ist Hebamme bei Ärzte ohne Grenzen und derzeit in den Flüchtlingslagern auf der griechischen Insel Lesbos im Einsatz. Die Tirolerin schildert der „Krone“ die Situation vor Ort. In ihrer Arbeit ist sie nicht nur mit Schwangeren konfrontiert, sondern auch mit den Opfern sexueller Gewalt.
„Krone“: Frau Falkner, was machen Sie genau auf Lesbos, wie sieht Ihr Alltag aus?
Julia Falkner: Seit Anfang Februar bin ich hier als Hebamme in einer Frauengesundheitsklinik. Wir betreuen Schwangere und Wöchnerinnen, aber keine Geburten. Neben den Schwangeren und Neugeborenen nimmt leider auch das Thema sexuelle Gewalt einen großen Teil meiner Arbeit ein.
Wo erfahren diese Menschen sexuelle Gewalt?
Viele haben in ihren Heimatländern diese Erfahrung gemacht, z.B. in Afghanistan. Viele erfahren Gewalt aber auch auf ihrem Fluchtweg zu Fuß durch den Iran, durch die Türkei oder Afrika. Es ist kein einfacher Weg. Viele der Menschen sind schutzbedürftig, also Frauen, besonders junge Frauen und Kinder, die aber überhaupt keinen Schutz erfahren. Am Weg ist da niemand, der auf sie schaut.
Wir haben eine Frau aus Afghanistan hier, sie wurde an ihren Mann verkauft und hat drei Kinder bekommen. Er hat sie geschlagen und sie ist geflohen, sie wollte mit ihren Kindern die beschwerliche Reise in die EU auf sich nehmen. In der Türkei hat sie aber ihr Mann gefunden und versucht, sie zu erstechen. Mit vielen Stichwunden ist sie ins Krankenhaus gekommen. Sie hat panische Angst, dass ihr Mann sie findet und umbringt. Jetzt lebt sie in einem Zelt, das sie nicht absperren kann. Sie muss Psychopharmaka nehmen und hat bei lauten Geräuschen in der Nacht Flashbacks, deswegen kann sie nicht schlafen. Für mich ist das ganz schlimm zu sehen, weil sie bewusst in diesen Lebensumständen gehalten wird und sich so nicht erholen kann.
Wie kann es in den Camps zu Gewalt kommen?
Es ist ein sehr kleines Areal, wo 6000 Menschen eingesperrt sind. Die Polizei patrouilliert zwar, aber zu wenig. Die Toiletten (Dixi-Klos, ungefähr 70 Menschen kommen auf ein Klo) und sanitären Einrichtungen sind in der Nacht nicht einmal beleuchtet.
Wie sind die Zustände auf Lesbos?
Ich war auf Einsätzen im Südsudan und der früheren IS-Hochbug Mossul, aber dieser Einsatz hier ist der schlimmste. Es gibt ein großes Flüchtlingscamp mit ca. 6000 Menschen, davon schätze ich sind 2500 Kinder, der Rest zu gleichen Teilen Männer und Frauen. Es gibt viele Säuglinge und Kleinkinder. Im Winter waren die Neugeborenen im Zelt bei Temperaturen von fünf Grad. Manche haben sich einen kleinen Ofen gekauft, was aber zur Folge hatte, dass das Stromnetz überlastet war.
Dann hat etwas Feuer gefangen und dann sind oft gleich ein, zwei Zelte abgebrannt. Die Menschen dürfen hier auch nicht raus. Außer dem neuen Moria, wo die Zustände am schlimmsten sind, werden die Camps aufgelassen. Kara Tepe war eines der letzten Camps, wo man noch würdevoll leben konnte. Um fünf Uhr in der Früh im strömenden Regen still und heimlich an der Öffentlichkeit vorbei hat man das angefangen abzubauen.
Wie ist eigentlich die Stimmung im Camp?
Hoffnungslos. Der Alltag ist trostlos. Es gibt keine Ablenkung. Wegen Corona sind auch alle Schulen geschlossen, alle selbst organisierten Freizeitaktivitäten wie Kinderbetreuung sind geschlossen. Alles, was den Menschen bleibt, ist zu warten. Sie warten auf die Essensausgabe, sie warten auf das Asylverfahren und auf Dokumente. Überraschenderweise haben viele ein positives Asylverfahren, können aber trotzdem nicht von der Insel, weil die Dokumente wie der Pass Monate brauchen, bis sie bereit sind.
Ich bin aber auch überrascht, wie geduldig viele Menschen hier sind. Ich selbst wäre viel frustrierter. Sie haben sich ja gedacht, dass sie in Europa endlich in Sicherheit sind. Was aber nicht der Fall ist. Die psychische Gesundheit der Leute hier leidet extrem. Kürzlich habe ich einen Mann sagen gehört, dass es im Moment so schlimm ist, dass er lieber in Syrien geblieben und unter einer Bombe gestorben wäre.
Gibt es etwas Positives?
Schwierig. Ich als Hebamme habe schöne Momente, wenn die Frauen die Kinder bekommen – ein Neugeborenes ist immer etwas Schönes. Ich erfahre auch viel Dankbarkeit von den Migranten, sie sind dankbar für alles, weil ihnen seit Monaten keiner zugehört hat. Ich bekomme dann von ihnen zu hören: „Tut mir leid, dass ich so viel rede, aber niemand spricht mit mir, ich werde nur herumgeschupft und wie eine Nummer behandelt.“
Wie geht es Ihnen und wie lange bleiben Sie noch?
Sechs Monate sind normalerweise üblich, ich bin seit vier Monaten im Einsatz und bleibe noch bis Ende Mai. Für mich ist das sehr fordernd, und ich habe eine emotionale Grenze erreicht. Sechs Monate wären in dieser Situation zu viel. Für mein Herz und meine Seele wäre es echt schlimm, noch länger zu bleiben.
Haben Sie noch eine Botschaft nach Tirol?
Es wäre wichtig, die Augen nicht zuzumachen, sich zu informieren und aufzustehen. Diese Camps sind mit unseren Werten nicht vereinbar, wir können diese Leute nicht einfach ihrem Schicksal überlassen. Wenn man sich überlegt, dass das in der EU passiert … Es ist eine Schande, ganz ehrlich, es ist ein Schandfleck.
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