Denn animalische Wildheit und radikale Triebhaftigkeit haben auch wir vermeintlich zivilisierten Menschen nie ganz abgeschüttelt. So sind die Tänzerinnen und Tänzer bei „360° – skinned“, ganz in Pelzmäntel gehüllt, dann auch mehr Tier denn Mensch. Freier Tanz mit Hang zum Rudelverhalten wird mit Gestöhne, Gezwitscher und elektronischem Musik-Rauschen untermalt. Der Grad der Wildheit scheint seinen Höhepunkt gefunden zu haben, als Lissie Rettenwander, zusammen mit Fabian Lanzmaier für die Livemusik zuständig, singend und schreiend aus dem Musiker-Abseits den 360-Grad-Rundum-Tanzraum betritt. Ihr lautester Schrei tut beinahe körperlich weh. Die Tänzerinnen und Tänzer scheinen davon im Anschluss beinahe unbeeindruckt und spulen ihr Wildheits-Programm mit wenigen Graustufen weiter ab.
Die Visuals von Beto de Christo verstärken diesen Eindruck noch. Wie den Musikern und den Tanzperformern geht es diesen um Verwischung und um Strukturauflösung. In diesem Zustand verharrt das Stück sehr lange. Fast schon gewöhnt man sich an die ständig nicht nur brodelnde, sondern kochende Wildheit.
Kurz findet das Stück einen Ausweg. Als sich die Tänzerinnen und Tänzer nämlich ihrer Pelzmäntel entledigt haben und damit gewissermaßen einen Übertritt vom Animalischen zum Menschlichen vollziehen, lassen sich erstmalig vertraute Tanzformen und Bewegungsmuster erkennen.
Doch wenig später bewegt sich „360° – skinned“ bereits in Richtung Club, akustisch begleitet von hämmernden Beats. Dort schlägt die Wildheit erst richtig durch: Hemmungslosigkeit und sexuelle Energien sprudeln regelrecht über. Diese Schlussszene kann damit als Klimax und zugleich als eine Art Conclusio gelten: Wildheit gibt es nicht nur in einem Naturzustand, sondern die Natur sucht sich stets ihre Wege in einer kulturhaften Zivilisation.
Markus Stegmayr, Kronen Zeitung
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