Altes Handwerk

Die Letzten: Das Geheimnis der 7 Goldradhauben

Vorarlberg
20.06.2021 11:55

In seiner Serie „Die Letzten“ porträtiert der Autor Robert Schneider Menschen, die einem alten Handwerk nachgehen. Vor ein paar Tagen hat er den Goldradhaubenmacher Michael Selb besucht.

Ein verwunschenes Fachwerkhaus in Feldkirch, wohl viele hundert Jahre alt. Eingefriedet von einem so prachtvollen Rosengarten, dass man dahinter das schlafende Dornröschen vermuten möchte. Ich klingle. Es öffnet der Prinz, um beim Märchen zu bleiben.

Der Prinz ist eigentlich gelernter Werkzeugmacher und heißt Michael Selb. Schon in jungen Jahren war er vom Volksbrauchtum fasziniert, wurde Mitglied in der Trachtengruppe der Stadt Feldkirch, lernte die Schritte der alten Kontertänze. Was ihn jedoch auf magische Weise anzog, war das Kunstwerk der sogenannten Bodensee-Goldradhaube. Und nun wird es märchenhaft und mysteriös zugleich.

Ein Meisterwerk (Bild: Mathis Fotografie)
Ein Meisterwerk

Michael wollte dem Geheimnis dieses unerhört filigranen Kopfschmucks auf die Spur kommen, den die Patrizierfrauen in Feldkirch trugen. Ein Rad aus feinsten Golddrähten und -gespinsten, das aussieht wie ein Pfauenrad und in ganz entfernter Weise fast an den Indianerschmuck großer Häuptlinge erinnert.

Der junge Mann begann zu recherchieren, suchte Leute, die das Fertigen der Goldlaméspitze noch beherrschten, den „richtigen Stich“, wie er sich fachmännisch ausdrückt. Das Ungewöhnliche an der Lamé-Arbeit besteht nämlich darin, dass sie vorne wie hinten ihre einzigartige Perfektion zeigt.

Sie war die Einzige weit und breit 
Michaels Suche blieb erfolglos. Schriftlich war nichts dokumentiert, obwohl er viele Archive abklapperte. Niemand war mehr in der Lage, diesen Kopfschmuck herzustellen. Niemand, außer einer geheimnisvollen Frau, die in Gossau/St. Gallen lebte, Rosa Enzler-Wick mit Namen. Sie war die Einzige weit und breit, die noch Goldradhauben herstellen konnte und davon auch ihren Lebensunterhalt bestritt.

Frau Enzler-Wick belieferte viele Jahre fast den gesamten Bodenseeraum mit ihren unerhört feingliedrigen Kunstwerken, gab das Geheimnis der Fertigung derselben jedoch nicht preis. Niemand durfte bei ihr lernen, ihr auf die Finger schauen.

„Wo sie selbst die Kunst erlernt hat“, sagt Michael Selb, „bleibt ein Rätsel.“ Sie soll geäußert haben, dass diese Handarbeit altrussischen Ursprungs sei. „Tatsächlich gab es in Galizien, heute Ukraine, jüdische Handwerksbetriebe, die Goldlamé-Applikationen auf liturgischen Gewändern anbrachten, die verblüffende Ähnlichkeit mit den Motiven unserer Goldhauben aufweisen“, erzählt mir der Prinz aus dem Dornröschenhaus begeistert.

350 Stunden Handarbeit stecken in jeder der Hauben (Bild: Mathis Fotografie)
350 Stunden Handarbeit stecken in jeder der Hauben
350 Stunden Handarbeit stecken in jeder der Hauben (Bild: Mathis Fotografie)
350 Stunden Handarbeit stecken in jeder der Hauben

„Die Shpanyer Arbet, wie der Beruf im Schtetl genannt wurde, weist wiederum in der Bezeichnung auf Spanien hin, wo die Juden 1492 vertrieben worden waren. Entfernte Zeugnisse dieser Kunst sehen wir noch heute auf den Gemälden von Velasquez.“
Eigentlich wollte ich über Goldradhauben reden, aber Michael Selb ist ein so profunder Kenner nicht nur des Handwerks, sondern auch der Historie, dass wir uns verzetteln.

Ein Kunstwerk, viele Einzelteile 
Sein größter Traum war es, wie gesagt, einmal selbst so eine Haube herstellen zu können. Sie besteht aus dem „Bödele“, ein mit Goldstoff überzogenem Karton, in dem verborgene handschriftliche Botschaften eingenäht wurden, dem „Streif“, der aus einem Metallgestell und einem steifen Hutmacherstoff aufgebaut ist und ebenfalls mit Goldstoff überzogen wird, schließlich der „Spitz“, eine geklöppelte, weiße Baumwollspitze, die auf ein vergoldetes Metallgestell genäht wird und - last but not least - dem „Rad“, dessen wichtigster Faden der sogenannte „Plattfaden“ ist.

Mir wird etwas schwindlig bei diesen vielen Fachbegriffen. Ich muss einen Schluck Wasser nehmen. Michael Selb zeigt mir die Vorrichtung zur Herstellung einer Goldradhaube, welche er selbst gebaut hat. Sie besteht aus einem Kegelstumpf, der um zwei Achsen drehbar ist. Dadurch kann das Rad der Goldhaube idealerweise in einem Stück aufgespannt werden. Auf einem Eisengestell sind die Spule für den Lamé-Faden befestigt, sowie sechs Klöppel für Hanf- und Sprenggoldschnüre.

„Eine spannende Arbeit ist das Zeichnen der Vorlage“, erklärt er. „Mit der hier bin ich noch nicht zufrieden.“ Er könne nicht gut zeichnen, meint er, weshalb er die Vorlagen auf dem Computer simuliert und dann auf Kopierfolie ausdruckt. Als er mir die Führung des „Plasch“ erklären will, des goldenen Plattfadens, der um die beiden Leitschnüre gewunden wird, steige ich aus. „I bi eigntli fertig mit da Froga“, sage ich aus reiner Notwehr.

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Reines Hobby, aber es ist an langen Winterabenden eine schöne Art Mediation.

Michael Selb

In den vierzig Jahren passionierter Beschäftigung mit diesem um 1900 bereits vergessenen Handwerk hat Michael Selb sieben Goldradhauben geschaffen. Für ein Stück hat er rund 350 Stunden Arbeit investiert. „Reines Hobby, aber es ist an langen Winterabenden eine schöne Art Mediation.“

Der Prinz der Goldradhauben begleitet mich schließlich hinaus. Ich schaue noch einmal auf den märchenhaften Prospekt des Fachwerkhauses mit dem eindrucksvollen Rosengarten davor. Wirklich wie im Märchen, denke ich, als ich heimfahre.

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