Das große Interview

Haben Sie zu früh aufgegeben, Herr Anschober?

Persönlich
09.07.2021 18:24

87 Tage nach seinem Rücktritt meldet sich Rudolf Anschober (60) zurück. Mit Conny Bischofberger spricht der ehemalige Gesundheitsminister der Grünen über seinen Heilungsprozess, ein Leben ohne Einkommen und erste Pläne für die berufliche Zukunft.

Freitagmorgen am Wiener Donaukanal. Unterhalb der Friedensbrücke steht ein Mann in weißem Hemd. Im rechten Arm hält er ein Buch und sein Mobiltelefon, mit der linken Hand winkt er Radfahrern und Gassigehern zurück. Der ehemalige Minister wird von fast allen sofort erkannt. „Hier mache ich nach der Hunderunde von der Siemensbrücke bis zur Friedensbrücke immer meine Qi-Gong-Übungen“, erzählt Anschober und lässt seinen Blick über das Wasser schweifen, „ein wundervoller Platz.“ Er sieht erholt aus, beinahe vergnügt. Das „Krone“-Interview findet auf einer Bank am Ufer statt. Später trifft Anschober noch eine Runde von Medienvertretern, um sich nach einer krankheitsbedingten Auszeit zurückzumelden.

„Krone“: Bei wenigen Menschen ist man auf die Antwort auf diese lapidare Frage so gespannt. Wie geht es Ihnen?
Rudolf Anschober: Viel besser! Ich habe mich weitgehend erholt. Blutdruck- und Zuckerwerte beginnen sich zu normalisieren, der Tinnitus ist weg, es kommt jeden Tag ein bisschen mehr Energie. Ich bin sehr zuversichtlich, dass ich nach dem Sommer wieder zu hundert Prozent fit bin.

Was ist der Grund, dass Sie heute, 87 Tage nach Ihrem Rücktritt, an die Öffentlichkeit gehen?
Ich habe nicht nachgezählt, aber das ist eine schöne Zahl. - Lacht. - Ich habe ja bei meiner Abschiedsrede versprochen, mich zu melden, sobald es mir besser geht. Das ist der eine Grund. Und es gibt einfach sehr, sehr viele Menschen, die immer wieder nachfragen: „Geht es Ihnen eh gut?“ Die kann ich heute beruhigen.

Video: Die Rücktrittsrede von Rudolf Anschober

Den anwesenden Journalistinnen und Journalisten haben Sie damals „Auf Wiedersehen“ gesagt. Haben Sie uns vermisst?
Ja, durchaus. Weil ich mit den allermeisten von Ihnen sehr gute Erfahrungen gemacht habe.

Wie haben Sie die letzten drei Monate verbracht?
Die ersten Wochen habe ich mich völlig abgenabelt, auch von den sozialen Medien, und einfach versucht, ein ruhiges Leben ohne Hektik und ohne Stress zu führen. In der Folge habe ich mich dann um viele alltägliche Notwendigkeiten wie die neue Sozialversicherung oder meine Pensionsberechtigung gekümmert. Ich beziehe ja derzeit keinen Euro an öffentlichem Geld. Ich habe aber auch nach langer Zeit wieder einmal das Haus bis in den hintersten Winkel geputzt. Und mir die Zeit genommen, Freunde zu treffen. Das ist mir persönlich sehr wichtig, und es ist viel zu kurz gekommen.

Wovon leben Sie im Moment?
Von meinen Rücklagen. Ich habe über einen längeren Zeitraum sehr gut verdient, da konnte ich mir ein bisschen was ansparen. Ich bin ja kein Mensch, der Luxusreisen macht oder einen Luxusschlitten fährt. Jetzt geht es darum, mir für die fünf Jahre bis zu meiner Pensionierung wieder eine wirtschaftliche Existenz aufzubauen. Da hängen Dutzende Kleinigkeiten dran. Steuerrechtliche Fragen, die ganze Bürokratie, ich bin ja jetzt auf mich selbst gestellt und das ist sehr herausfordernd. Weil man merkt, wie es in der Vergangenheit den Mitarbeitern gegangen ist. Diesen neuen Lebensabschnitt bereite ich langsam vor.

Anschober lebt derzeit von seinen Rücklagen. (Bild: Reinhard Holl)
Anschober lebt derzeit von seinen Rücklagen.

Sind Sie auch jemand, der vergessen hat, wie man Geld abhebt beim Bankomaten oder wie viel ein Viertelkilo Butter kostet?
Nein, ich habe immer geschaut, dass ich trotz Regierungsfunktion selbstständig bleibe und ein möglichst normales Leben führe. Die Verwurzelung im Alltag war mir immer wichtig.

Wie schwer war es loszulassen?
Von 150 Prozent Stress auf Null zu kommen war nicht leicht. Du kannst nicht einfach sagen: „So, jetzt drehe ich mich um und genieße das Leben.“ Wenn man viele Monate nur drei, vier Stunden pro Nacht schläft, dann geht das nicht von heute auf morgen, wieder acht Stunden zu schlafen. Mein Körper hat eine Zeit gebraucht, um zu realisieren, dass er jetzt wieder mehr Freiheiten hat.

Mussten Sie das Genießen wieder lernen?
Genießen ist das Schönste, das es gibt. Aber ja, man braucht dafür Zeit, Muße und Geduld.

Was haben Sie am meisten genossen?
Diese Zeit wieder zu haben. Zeit für Menschen und Freundschaften, fürs Kochen, fürs Spazierengehen, für "Agur", meinen Hund. Wieder einmal ein Buch in die Hand zu nehmen und ganz in Ruhe zu lesen, nicht schnell, schnell. Keine Sachbücher, die im Job wichtig sind, sondern Literatur. Decamerone von Boccaccio zum Beispiel, eine Sammlung von Novellen über die Quarantäne während der Pest in Rom. Ich habe auch begonnen, Bücher, die ich vor 20 Jahren schon einmal gelesen habe, durchzusehen, bestimmte Stellen wieder zu lesen. Mir wurde auch bewusst, dass die Zeit der Krimis für mich endgültig vorbei ist. Dabei war ich früher ja ein Krimi-Freak.

Apropos Hund: Konnte der sein Glück fassen?
Der hat mich die ersten drei Tage in der Früh überrascht angeschaut. Er genießt das sehr. Da er schon zwölf Jahre alt ist, war es der richtige Moment, noch möglichst viel Zeit mit ihm zu verbringen. Das Spannende an Tieren ist, sich auf ihre Sprache einzulassen, ihre Signale zu hören und zu verstehen, sich auf diese andere Art der Kommunikation einzulassen. Da entsteht eine ganz eigene Beziehung. Und jene Sensibilität, mit der ein neuer Blick auf die Dinge des Lebens möglich wird.

In Ihrer Abschiedsrede am 13. April haben Sie gesagt: „Ich will mich nicht kaputt machen.“ Was hat Ihnen dann die Kraft gegeben, sich zurückzunehmen?
Ich habe in meinen Körper hineingehört und wusste, das wäre nicht gut ausgegangen. Zutiefst berührend war, dass ich Tausende Mails und Briefe bekommen habe. Ich hätte eine Bäckerei und eine Blumenhandlung aufmachen können, so viele Kuchen und Sträuße habe ich geschenkt bekommen. Auch Gutscheine für Massagen und eine Yoga-Woche auf Mallorca, aber das habe ich nicht angenommen. „Danke für all das, was Sie für uns gemacht haben“, das war der Grundtenor. Unglaublich, wie einfühlsam sehr, sehr viele Menschen sind! Das hat mir viel Kraft gegeben. Man könnte sagen, es war Balsam auf meine Wunden.

Sie hatten aber auch Morddrohungen bekommen. Was hat das mit Ihnen gemacht?
Morddrohungen verändern einen. Am Ende stand vor und hinter meinem Haus ein Polizeiauto. Dazwischen hatte ich das Gefühl, nicht mehr atmen zu können, keinen Freiraum mehr zu haben. Die Drohungen kamen aber von einer ganz kleinen, radikalisierten Minderheit. Die überwältigende Mehrheit war mir freundlich gesinnt. Alleine auf Facebook gab es in den ersten Tagen nach dem Rücktritt 17.000 positive Kommentare.

Sie waren immer ein sehr gewissenhafter und konsensorientierter Politiker. Wie viel Mensch geht sich in der Spitzenpolitik aus?
Ich glaube, es braucht möglichst viel Mensch in der Spitzenpolitik. Wenn ein Politiker aalglatt ist und nur Strategien und Umfragen folgt, dann spürt das die Bevölkerung. Zu mir ist sehr viel an liebevoller Energie zurückgekommen. Mein Eindruck war, dass die Menschen das Gefühl hatten: Der meint es ehrlich, der zeigt auch Schwächen und schwindelt sich nicht drüber. Ich glaube, es wäre für viele in der Politik befreiend, wenn sie das auch so halten würden.

„Einen Schuss Populismus und Parteitaktik“ haben Sie in Ihrer Rede auch beklagt. Waren Sie da rückblickend vielleicht sogar zu gnädig?
Ich bin mit viel Spontaneität in diese Rede gegangen, da war keine Berechnung dabei. Koalitionen sind nie einfach ... Die Zeit, das alles zu bewerten, wird kommen. Vielleicht hat das in einem Buch Platz oder auf anderer Ebene. Ich will aber nicht im Nachhinein der Besserwisser sein oder mich in die Tagespolitik einmischen. Mit einer Ausnahme, das muss gesagt sein: Der Wolfgang Mückstein macht einen tollen Job!

(Bild: Reinhard Holl)

Ihr Nachfolger ist sehr beliebt, die Impfrate steigt, wir sind trotz der Delta-Variante auf einem guten Weg. Haben Sie zu früh aufgegeben?
Eine Pandemie ist nicht kalkulierbar, und die Impfrate muss noch deutlich steigen. Christian Drosten hat Recht, wenn er sagt: Alle, die sich nicht impfen lassen, werden sich infizieren. Zu Ihrer Frage, ob ich zu früh aufgegeben habe: Mir ist wichtig, dass wir mit unserer konsequenten und harten Linie zu Ostern die jetzigen Öffnungen erst ermöglicht haben. Viele haben mich danach gefragt, wieso haben Sie nicht auch noch die Ernte eingefahren? Aber dass es so ausgegangen ist, war ja nicht meine Leistung, dazu haben alle in der Gesellschaft beigetragen, die unseren Kurs mitgetragen haben. Bin ich zu früh gegangen? Nein, denn ich musste die Notbremse ziehen, auch zum Schutz meiner eigenen Gesundheit.

Haben Sie Ihren Rücktritt nie bereut?
Mich überrascht das selbst, aber nein, keine Sekunde lang. Ich hätte mir selbst und dem Land nichts Gutes getan, wenn ich mit halber Kraft versucht hätte das zu tun, wofür man hundert Prozent Energie braucht.

War es doch ein Burn-out?
Nein, denn ich weiß, wie sich ein Burn-out anfühlt. Mit einem Burn-out hält man keine Abschiedsrede mehr. Es war Erschöpfung. 

Haben Sie die Spitzenpolitik unterschätzt?
Bestimmt nicht. Ich hatte davor ja doch schon ein paar Jahre politische Erfahrung. - Lacht. - Aber dann kam die größte Pandemie seit hundert Jahren auf uns zu. Das hat das Leben von jedem Einzelnen radikal verändert und auch meine Arbeit als Minister.

Ein politisches Comeback, ist das denkbar?
Nein, das strebe ich absolut nicht an. In 18 Jahren Regierungsarbeit macht man ja auch unglaublich viel Erfahrung. Diesen Wissensschatz gebe ich aber gerne weiter. Es ist ein ganz neuer Lebensabschnitt, den ich jetzt starte. Ich möchte Kommentare schreiben, Vorträge halten und beginnen, meinen Roman zu schreiben. Das alles als freier Selbstständiger. Sobald ich das Gefühl habe, ich bin wieder ganz der Alte, werde ich mit der Umsetzung beginnen.

Rudolf Anschober im Gespräch mit Conny Bischofberger (Bild: Reinhard Holl)
Rudolf Anschober im Gespräch mit Conny Bischofberger

Was sind die Themen Ihrer Vorträge? 
Im Moment sind erste Anfragen da. Die eine betrifft Themensetzung in der Politik, die andere Krisenmanagement. Aber ich gehe jetzt nicht mit einem Schildchen durch die Gegend, auf dem mein Portfolio steht.

Sie haben sich viele Jahre dafür eingesetzt, jugendliche Asylwerber auszubilden statt abzuschieben. Nun stehen jugendliche Asylwerber unter Mordverdacht. Was empfinden Sie beim Fall Leonie?
Traurigkeit. Die Tat darf niemand relativieren. Da musste ein 13-jähriges Mädchen, ohne dass es etwas dafür kann, sein Leben lassen. Das ist unfassbar traurig. Ich merke aber auch, dass politische Geschäfte mit diesem Fall gemacht werden. Dafür ist jetzt nicht der Moment.

Muss es nicht im Gegenteil eine Abschiebungsdebatte geben?
Wir haben ein Asylsystem, das 20 Jahre hindurch verschärft wurde und in dem vieles trotzdem nicht zusammenpasst. Wir brauchen mehr Stellenwert für Integration. Ich habe immer dafür gekämpft, dass man die Bereitschaft junger Asylwerber, sich zu integrieren, viel stärker mitbewertet.

Und wenn die Integrationsbereitschaft fehlt? Die mutmaßlichen Täter haben ja Drogenhandel betrieben und sich teilweise schwere Straftaten zuschulden kommen lassen.
Ich kenne den Fall nicht im Detail. Aber prinzipiell muss jedem Betroffenen klar sein, dass es in einer Gesellschaft wie Österreich Konsequenzen hat, wenn sich jemand wiederholt und nachhaltig gegen die Gesetze stellt.

Sie sind im November 60 geworden. Wo sehen Sie sich mit 70?
Keine Ahnung. Ich hoffe, wir werden beide wieder hier auf dieser Bank am Donaukanal sitzen, beide gesund. Denn Gesundheit ist die Grundvoraussetzung für alles andere. In den letzten drei Monaten wurde mir wieder bewusst: Gesundheit wird uns nicht geschenkt. Wir müssen auch etwas dafür tun.

Zur Person: Er war nur 15 Monate Minister
Geboren am 21. November 1960 in Wels, erlernter Beruf: Volksschullehrer. Politisch aktiv seit den 1980er-Jahren, am Beginn in der Anti-Atom-Bewegung, zuletzt bei der Initiative „Ausbildung statt Abschiebung“. 1990 zieht er als Verkehrssprecher der Grünen in den Nationalrat, ab 1997 ist er Abgeordneter im oberösterreichischen Landtag, ab 2003 Umwelt- und Integrations-Landesrat. Im Jänner 2020 wurde Anschober Minister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz in der türkis-grünen Koalition, am 13. April gab er seinen Rücktritt aus gesundheitlichen Gründen bekannt. Sein Haus im Mühlviertel teilt er mit Hund „Agur“ und den Katzen „Luca“, „Toni“ und „Jeany“.

Zur Person

Geboren am 21. November 1960 in Wels, erlernter Beruf: Volksschullehrer. Politisch aktiv seit den 1980er-Jahren, am Beginn in der Anti-Atom-Bewegung, zuletzt bei der Initiative „Ausbildung statt Abschiebung“. 1990 zieht er als Verkehrssprecher der Grünen in den Nationalrat, ab 1997 ist er Abgeordneter im oberösterreichischen Landtag, ab 2003 Umwelt- und Integrations-Landesrat. Im Jänner 2020 wurde Anschober Minister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz in der türkis-grünen Koalition, am 13. April gab er seinen Rücktritt aus gesundheitlichen Gründen bekannt. Sein Haus im Mühlviertel teilt er mit Hund „Agur“ und den Katzen „Luca“, „Toni“ und „Jeany“.

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