Finaaaleee! Am heutigen Sonntagabend spielen im Londoner Wembley-Stadion England und Italien um die Europameisterschaft. Wer gewinnt auf dem heiligen Rasen? Schießt Harry Kane das erlösende Tor? Oder trifft Stürmergott Ciro Immobile? In beiden Ländern ist das runde Leder fast eine Art Ersatzreligion.
1. Fußball in England, das ist zudem eine königliche Angelegenheit. Queen Elisabeth soll seit Jahrzehnten Fan von Westham United sein. Mit Declan Rice ist immerhin ein defensiver Mittelfeldmann der Hammers im Finale dabei. Prinz William und Familie wiederum zeigen sich offensiv im Stadion. Der vermutliche nächste König ist als Anhänger Aston Villas sogar Präsident der „English Football Association“, des englischen Fußballverbandes.
2. Ganz zusammen passen eine Monarchie und das runde Leder als Breitensport des Volkes nicht. Politiker zeigen sich gerne beim Fußball, um ihren Wählern „Ich bin einer von euch!“ als volksnahe Botschaft zu kommunizieren. Die Königsfamilie freilich hat Untertanen, und im britischen Adel sind ansonsten eher elitäre Sportarten verbreitet.
3. Prinz Charles etwa, der eigentliche Thronfolger, spielte früher Polo. Da braucht man für ein Match vier Rassepferde im Stall, was kein Durchschnittsbürger hat. Zeitgleich mit dem EM-Finale schreiten heute Herzog und Herzogin von Kent beim Tennis auf dem heiligen Rasen von Wimbledon am Rande der abgehobenen Arroganz die Reihen entlang, als würden wir im 19. Jahrhundert leben.
4. Das fußballerisch verbindende Glied zwischen den Bevölkerungsgruppen in England ist die Tradition. Man sieht sich gemeinsam als Mutterland einer Sportart, deren erstes „internationales“ Spiel vor fast 150 Jahren zwischen einer englischen und schottischen Mannschaft stattgefunden haben soll. Wenn Prinz William Aston Villa die Daumen drückt, tut er das für einen seit 1874 bestehenden Birminghamer Verein, der sechs seiner sieben Meistertitel von 1894 bis 1910 gewann. 2021 wittert man die Chance, zum allerersten Mal zu belegen, wirklich die besten Kicker zu haben.
5. So sehr Englands Krone eine auch blutige Geschichte hat, ist Italiens Hymne geradezu von Blut getränkt. Die Emotionen der Mannschaft beim Singen sind zu bewundern, doch den Text beachten die wenigsten. Leonardo Bonucci & Co. verkünden da als Brüder Italiens bereit zum Tod zu sein. Den Österreichern wird darin vorgeworfen, von Nord-Polen bis Süditalien in vielen Kriegen Blut getrunken zu haben. Nun müsse man unserem Adler die Federn rupfen, was ja im Achtelfinale geschehen ist.
6. Klar, diese Liedzeilen erklären sich, weil die sogenannte Mamelihymne alt ist. Doch sie beweisen, dass Fußball in Italien viel mehr ist als „nur“ die wichtigste Nebensache der Welt. Wir sollten auch ein bisschen genauer hinschauen, bevor wir - was ja logisch ist - mehrheitlich zum Nachbarland halten. Bei aller Idealisierung des italienischen Fußballs und seiner Stimmung: Da war zum Beispiel auch vor dem Elfmeterschießen gegen Spanien die peinliche Schauspieleinlage des zu Beginn erwähnten Immobile gegen die Belgier.
7. Ciro Immobile ließ sich im Strafraum fallen, tat, als wäre er schwer verletzt, und hoffte auf einen falschen Elfmeterpfiff. Als sein Mannschaftskollege Nicolo Barella stattdessen ins Tor traf, sprang er nach einer Art Wunderheilung auf und joggte wie ein junger Gott zum gemeinsamen Torjubel. Der Treffer kam auch zustande, weil die Schwalbe einen belgischen Verteidiger entscheidend abgelenkt hatte. In jedem anderen Beruf - man stelle sich vor, ein Politiker würde Ähnliches machen - hätte man Immobile als miesen Betrüger beschimpft.
8. Doch Fußballhelden wird alles verziehen. Warum nur, warum? In Italien hat das viel mit deren Version des amerikanischen Traums „Vom Tellerwäscher zum Millionär“ zu tun. Lorenzo Insigne stammt aus einem armen Vorort von Neapel, der als sozialer Brennpunkt gilt. Prompt drohte er in die Kriminalität abzurutschen, um nun jedes Jahr Millionen Euros zu verdienen.
9. Da passt es sogar ins Konzept, dass der verehrteste Fußballnapolitaner aus Argentinien kam und ein Betrugstor als „Hand Gottes“ bezeichnete: Diego Maradona. Fußball hat eben religionsähnliche Rituale vom Bekreuzigen vor Spielbeginn bis zum abergläubischen Pinkeln auf dem Rasen, was einst ein Tormann wirklich vor jedem Elfmeterschießen durfte. Zum Glück bleibt uns das heute erspart.
10. Was leider aber zum Finale gehört: Einerseits darf nicht Mittelstürmer Corona der Sieger sein. Was sich im Stadion und davor - wo keine 3 G, Geimpfte, Genesene und Getestete, sind - abspielt, spottet jeder gesundheitlichen Vorsicht. Der britische Premierminister Boris Johnson nimmt das in Kauf. Andererseits ist jedem Fan von Herzen viel Freude zu wünschen. Nicht jedoch rassistischen Hooligans des Typs Headhunters von Chelsea London oder den Nachfolgern der widerlichen Irriducibili von Lazio Rom, denen es nur um Gewalt geht.
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