Krise in Afghanistan:
„Können momentan faktisch nicht abschieben“
Nach 20 Jahren militärischem Einsatz haben US- und internationale Truppen ihren Rückzug aus Afghanistan nun beinahe abgeschlossen. Das freut die Taliban. Die radikalislamistische Miliz befindet sich auf dem Vormarsch und erobert Stadt um Stadt. Was wird aus dem krisengebeutelten Staat und was heißt das für Europa? Das hat krone.tv-Journalistin Damita Pressl diese Woche bei „Moment Mal“ mit Brigadier Walter Feichtinger vom Center für Strategische Analysen und mit Clemens Zavarsky aus der Außenpolitikredaktion der Kronen Zeitung besprochen.
„In Afghanistan herrscht de facto seit über 40 Jahren Krieg“, erklärt Zavarsky. Ein „Jahrzehnt der Demokratie“ habe es in den 60er-Jahren gegeben; es folgten ein Putsch, Kriege und Konflikte. „In den 90ern haben dann die Taliban die Macht an sich gerissen.“ Mit ihrem militärischen Einsatz war das Ziel der USA, „einerseits den Terrorismus auszurotten und das Rückzugsgebiet zu verhindern, und auf der anderen Seite den Staat Afghanistan nach modernen Charakteristika aufzubauen. Die Terrorismusbekämpfung hat bis zu einem gewissen Grad funktioniert; der Aufbau des Staates nach westlichen Vorstellungen leider überhaupt nicht“, sagt Feichtinger. Zavarsky ergänzt: „Das ist kein Staat, so wie wir das kennen, sondern das sind extrem viele kleine Ethnien.“
Der perfekte Nährboden also für die Taliban. Die Gruppierung ist in den 90er-Jahren in Religionsschulen in Pakistan entstanden, erklärt Feichtinger, und ist damals bereits - ebenfalls im Zuge eines Truppenabzugs, nämlich jenem der Sowjets - erstarkt. „Man ist immer so stark, wie es die anderen zulassen“, so Feichtinger, und damals wie heute war eben niemand anderer da. „Jetzt nutzen die Taliban die Gunst der Stunde und versuchen, die Macht an sich zu reißen. Man kann davon ausgehen, dass sie in nächster Zeit noch stärker werden und einen Großteil des Landes kontrollieren.“
Regierungstruppen zwar zahlreicher, aber geschwächt
Es ist schwer, in Zahlen zu gießen, wie stark die Taliban militärisch tatsächlich sind - Schätzungen belaufen sich auf zwischen 40.000 und 85.000 Kämpfer. „Die Sicherheitskräfte Afghanistans sind zahlenmäßig viel mehr, aber es ist ihnen das Skelett weggebrochen“, erklärt Feichtinger. Denn diese haben immer von der starken Unterstützung der USA und der NATO gelebt, „und genau das bricht jetzt weg“. Außerdem haben die Taliban nun die Informationshoheit; die Schlagzeilen auf der ganzen Welt handeln von ihren Siegen, von den Regierungstruppen hört man kaum etwas.
„Die Taliban arbeiten sehr viel mit Symbolpolitik“, bestätigt auch Zavarsky. Denn der Vormarsch habe im Norden begonnen: „Der Norden war immer ein widerständiges Gebiet. Das sagt aus: ‚Ihr könnt euch noch so lange wehren. Wir kommen trotzdem und werden euch trotzdem erobern.‘ Das hatte einen extremen Symbolwert für die afghanische Bevölkerung.“
Zudem weisen die afghanischen Sicherheitskräfte klare Schwächen auf. „Das afghanische Regierungssystem ist innerlich immer noch korrupt und kaputt. Es kann sein, dass viele der lokalen Machthaber selbst ihre Deals mit den Taliban aushandeln“, sagt Zavarsky. Außerdem ist die Kampfmoral eine ganz andere, so Feichtinger: „Die Taliban sind hoch motiviert und sehen ihr größtes Seelenheil darin, im Kampf zu fallen. Die gehen ohne Rücksicht auf Verluste in den Kampf. Demgegenüber sind die Kräfte des afghanischen Sicherheitsapparates auf einen Zentralstaat eingeschworen, ihre Loyalität sehen sie aber eigentlich nicht beim Staat und in der Hauptstadt Kabul, sondern bei ihrem Stamm zu Hause. Da kann es natürlich zu enormen Konflikten kommen.“
Schätzungen von US-Geheimdiensten zufolge wird die Hauptstadt Kabul in den nächsten 30 bis 90 Tagen fallen. Feichtinger erklärt: solche Schätzungen beruhen auf Mannstärke, der öffentlichen Meinung, dem vorhandenen Waffenpotenzial und ähnlichen Faktoren, die in die Analyse fließen. Doch Zavarsky und Feichtinger sind sich einig: Nur, weil Kabul vielleicht an die Taliban fällt, heißt das noch nicht, dass das so bleibt. „Die Wahrscheinlichkeit, dass die Taliban Kabul einnehmen, ist nicht so gering. Was ich aber nicht glaube, ist, dass sie die Stadt als Ganzes einnehmen, oder dass sie sie halten können. Die Ressourcen haben die Taliban nicht.“ Denn: Der Vormarsch sei nur eine Seite der Medaille. „Morgen müssen Sie dieses Gebiet kontrollieren, militärisch überwachen, für Sicherheit sorgen und für die Leute in dem Gebiet sorgen. Ob sie das auf Dauer können, bezweifle ich im höchsten Maße“, so Feichtinger.
Was bedeutet das Chaos nun für Österreich? Immerhin machen sich aus Afghanistan laut der Internationalen Organisation für Migration derzeit 20.000 bis 30.000 Menschen pro Woche auf den Weg; manche davon werden nach Europa wollen. Für den Juristen und Völkerrechtsexperten Ralph Janik ist die Lage eindeutig: „Man darf niemanden in ein Land abschieben, in dem ihm oder ihr Folter oder unmenschliche Behandlung droht. Bisher hat man mit ‚innerstaatlichen Fluchtalternativen‘ argumentiert; diese gibt es aber nun nicht mehr. Daher sind Abschiebungen derzeit rechtlich nicht möglich.“
Und wie sieht die Lage faktisch aus? Zavarsky: „Die ÖVP versucht dennoch, weil sie Stärke zeigen will, an diesen Abschiebungen festzuhalten. Der letzte Flieger ging aber im Juni, das ist gute zwei Monate her. Nach einem gestrigen Telefonat mit dem Innenministerium und auf die Frage, wann der nächste Flieger geht, kam die Antwort: ‚Das darf ich, oder kann ich, Ihnen nicht sagen‘. Gerüchteweise spricht man von September. De facto schieben wir momentan nicht ab, weil wir nicht abschieben können. Wenn wir keine Landeerlaubnis in Kabul bekommen, können wir mit dem Flieger darüber kreisen und uns auf den Kopf stellen. Aber man sträubt sich dagegen, zu sagen, dass man momentan nicht abschiebt, weil das eventuell die Wählerklientel nicht bedient.“ Eine mögliche Alternative seien Flüchtlingslager in den Nachbarstaaten: „Es gibt momentan Gespräche mit den umliegenden Ländern - Usbekistan, Tadschikistan, Pakistan, dass man die Leute dorthin zurückbringt.“
Abschiebungen sind derzeit also nicht möglich, langfristig werden sich wohl China und Russland der Situation annehmen und in der Region an Einfluss gewinnen. „Das hat sich bereits abgezeichnet“, sagt Feichtinger, und sieht sogar die Möglichkeit, dass diese Länder als Ordnungsmächte einschreiten könnten, falls die Taliban erstarken. Denn besonders die umliegenden Länder haben ein großes Interesse an einer Stabilisierung. Europa hingegen könne realistischerweise kaum etwas bewirken: „Europa hat natürlich größtes Interesse an einem stabilen Afghanistan, aber die Möglichkeiten, dort einzuwirken, gehen derzeit gegen null.“
Essenziell sei derzeit humanitäre Hilfe, sagt Feichtinger: „Hier muss man schauen, dass die Möglichkeiten erhalten bleiben und man über die Grenzübergänge und Flugplätze noch ins Land kommt. Ganz wichtig ist, Hilfe so nahe wie möglich am Ort des Geschehens zu leisten: sichere Camps, entsprechende Versorgung, auch medizinische. Da haben wir beim Syrien-Krieg versagt. Wir haben gesehen, dass sich die Situation in Jordanien enorm zuspitzt, im Libanon enorm zuspitzt, und dennoch wurden die Hilfsgelder reduziert. Das kann so nicht sein.“
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