Deutschland zögerte

Afghanische Ortskräfte „sitzen in der Todesfalle“

Ausland
17.08.2021 15:46

Wegen des langen Zögerns der deutschen Bundesregierung bei der Evakuierung afghanischer Ortskräfte der Bundeswehr und anderer Institutionen sitzen Tausende Menschen derzeit in Kabul und anderen Orten Afghanistans fest. Viele fürchten um ihr Leben. Erst in der Nacht zum Montag wurde die Evakuierung gestartet (siehe Video oben). „Nun lassen wir 80 Prozent unserer Ortskräfte und ihre Familien in die Hände der Taliban fallen“, kritisierte Marcus Grotian, Gründer des Patenschaftsnetzwerks für afghanische Ortskräfte. Die Opposition sieht ein „Versagen“ der Regierung.

Vor Kurzem habe er noch zu Tausenden Ortskräften Kontakt gehabt, „danach mussten wir leider die Safe Houses auflösen, denn sie wurden langsam zu Todesfallen. Die Taliban gehen von Tür zu Tür und suchen nach unseren Ortskräften“, sagte Grotian am Montag im Interview mit dem ZDF. Daraufhin habe man den Menschen geraten, die Häuser zu verlassen und in der Bevölkerung unterzutauchen. Weder bei der Einrichtung der geheimen Unterkünfte noch bei der Ausreise habe der deutsche Staat geholfen, sagte der Soldat, der selbst im afghanischen Kunduz stationiert war.

Marcus Grotian macht der deutschen Regierung schwere Vorwürfe. (Bild: AP)
Marcus Grotian macht der deutschen Regierung schwere Vorwürfe.

„Unrealistisch, dass die rauskommen“
Als sein Patenschaftsnetzwerk selbst das Geld für Charter-Maschinen gehabt hätte, sei es schon zu spät gewesen. „Da flog keiner mehr nach Kabul rein.“ Da die Taliban einen Ring um den Flughafen gezogen hätten, kämen Ortskräfte von außen wahrscheinlich nicht mehr zu den Maschinen, selbst wenn Flieger landen könnten. Es sei daher „unrealistisch, dass die rauskommen“, zeigte sich Grotian desillusioniert. Was Visa angehe, so habe seit Juni kein einziges Verfahren angefangen. Ortskräfte hatten sich stattdessen wochenlang in Kabul aufgehalten in der Hoffnung, das Land verlassen zu können. Bis zum Schluss hätten sie vergeblich auf Visa gewartet.

„Hörte Außenminister nicht auf eigene Diplomaten?“
Scharfe Kritik kommt auch aus der Opposition: Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock ging Außenminister Heiko Maas (SPD) scharf an. Die dramatische Zuspitzung der Lage sei „mit Ansage gekommen“, sagte Baerbock am Donnerstagabend in der Sendung „RTL Direkt“. Sie verwies darauf, dass die deutsche Botschaft in Kabul frühzeitig vor den Gefahren durch den Vormarsch der Taliban warnte. „Wie kann es sein, dass der Außenminister nicht auf die Warnungen seiner eigenen Diplomaten hört?“, fragte daher Baerbock.

FDP fordert Regierungserklärung von Merkel
FDP-Fraktionsvize Alexander Graf Lambsdorff erhob Vorwürfe gegen Außenminister Maas, Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) und Innenminister Horst Seehofer (CSU), die mit Fragen der Evakuierung befasst sind. Die drei Regierungsmitglieder hätten „den Ernst der Lage nicht erkannt und verpasst, rechtzeitig eine Evakuierungsstrategie auszuarbeiten“, sagte Lambsdorff der „Passauer Neuen Presse“ vom Dienstag. „Dieses Versagen innerhalb der Bundesregierung kann Menschenleben kosten.“ Die FDP forderte von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) eine Regierungserklärung zum Fiasko in Afghanistan.

Verzweifeltes Warten am Flughafen in Kabul: Tausende hoffen, das Land noch verlassen zu können. (Bild: APA/AFP/Wakil Kohsar)
Verzweifeltes Warten am Flughafen in Kabul: Tausende hoffen, das Land noch verlassen zu können.

Linke: „Versagen“ der Regierung
Linksfraktionschef Dietmar Bartsch nannte es in den Zeitungen der Funke Mediengruppe ein „unentschuldbares Versagen der Verteidigungsministerin und des Außenminister“, dass die afghanischen Ortskräfte nicht schon „mit dem Abzug der Bundeswehr vor Wochen“ außer Landes gebracht wurden. „Das Geschacher der letzten Wochen mit Menschen, die Deutschland gedient haben, kann für viele Ortskräfte tödlich enden.“

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