Afghanistan-Trauma
„Der Vater will seinen Sohn sterben lassen“
Als Kommandant von rund 100 Soldaten schützte er den Wiederaufbau im Süden Afghanistans. In der „Kronen Zeitung“ schildert US-Colonel (Oberst) M. H., 54, mittlerweile im Ruhestand, seine Erlebnisse in Afghanistan - und seinen Kampf gegen ganz persönliche Dämonen. Name und Bilder wurden aus Sicherheitsgründen verfremdet, seine Schilderungen wurden von der „Krone“ transkribiert.
„2007 habe ich als Oberstleutnant in Qalat im Süden des Landes das Kommando über 100 Mann übernommen. Wir waren dort für die Sicherheit eines PRTs zuständig, das sind ,provincial reconstruction teams‘, also Wiederaufbau-Einheiten.
Er war fünf Jahre alt und schrie vor Schmerzen
Wenige Tage nach meiner Ankunft in Qalat landen Rettungshubschrauber auf der Basis. Drei kleine Buben eines nomadisch lebenden Stammes haben Fußball gespielt und dabei eine Landmine erwischt. Einer war sofort tot, ein zweiter schwer verletzt. Sein Bein hing unterhalb des Knies nur noch in Fetzen von seinem Körper. Er war fünf Jahre alt und schrie vor Schmerzen. Doch sein Vater verweigerte, dass wir ihn operieren.
Chirurg schüttete Wasser über das Bein
Ich versuchte, auf ihn einzureden: ,Mein Militärarzt hier ist im zivilen Leben Kinderchirurg in Baltimore. Sie haben enormes Glück!‘ Doch der Vater lehnte ab. Ich war fassungslos. Da nahm mich mein Übersetzer zur Seite. ,Du verstehst nicht. Er will mit seinem Sohn nur weg von hier und ihn sterben lassen. In einem Nomadenstamm ist ein junger schwer behinderter Bub eine zu große Belastung. Er wird von den Stammesältesten verstoßen, endet als Bettler in Kandahar, wird dort ausgeraubt und geschlagen. Aus der Sicht des Vaters ist es das Humanste, seinen Sohn zu töten.‘ Währenddessen schüttete mein Chirurg Wasser über das abgerissene Bein des verzweifelten Buben. Mehr durfte er laut unseren Vorgaben nicht tun, solange der Vater nicht zustimmte.
Erst als der Gouverneur der Provinz einen dreistelligen Dollarbetrag zahlte, ließ uns der Vater operieren. Der Bub überlebte. Was aus ihm wurde, weiß ich nicht. Er würde alle zwei Jahre eine neue Prothese brauchen.
Kein Zweifel: Er hat seinen Sohn geliebt
Noch heute gibt es für mich keinen Zweifel, dass dieser Vater seinen Sohn liebte. Ich habe es in seinen Augen gesehen. Er war hin- und hergerissen, hat geweint. Sollte er seinen Sohn retten und einem einsamen Leben in Armut und Gewalt aussetzen? Oder ihn zu Allah in den Himmel aufsteigen lassen?
Ich ertappe mich dabei, zu überlegen, ob der Vater nicht recht hatte. Nach unseren Normen und Vorstellungen einer Gesellschaft natürlich nicht. Wir mussten und wollten den Sohn um jeden Preis retten. Aber für den verzweifelten Vater, der wie viele andere Afghanen ein guter, liebevoller Mensch war, gab es in dem Moment eine andere Rationalität, eine andere Entscheidungsgrundlage. Wer sich nicht in die Erwägungen dieses Vaters hineinversetzen kann, wird weder Afghanistan noch die anhaltende Misere der Bevölkerung dort grundlegend verstehen.
Wir im Westen haben 90 Prozent unseres Trainings für den Afghanistan-Einsatz damit verbracht, dort kämpfen und überleben zu lernen. Doch niemand hat uns auf die gewaltigen kulturellen Unterschiede vorbereitet, die zu dem Land am Hindukusch bestehen. Das hat nichts mit Religion oder Ethnie zu tun. Es ist ein rein kulturelles Thema. Eines, mit dem sich wohl auch Österreich auseinandersetzen muss, sollten wieder vermehrt Flüchtlinge aus der Region ankommen.
Schwerer Fall von PTSD
Nach meiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten hatte ich große Probleme. Ohne eine Waffe an der Seite fühlte ich mich plötzlich unsicher. Ich konnte kaum schlafen. Ich blieb zwar als Offizier in der Air Force, musste aber wegen schwerem posttraumatischem Stress-Syndrom in Behandlung. Gemeinsam mit meinem Therapeuten haben wir uns auf die Suche nach der Ursache dafür gemacht. Er sagt, es dürfte der schreiende kleine Bub gewesen sein.
Immer noch traumatisiert
Noch heute werden meine Knie weich, wenn ich ein kleines Kind vor Schmerzen schreien höre. Ich bin selber vor einem knappen Jahr Vater geworden. Wenn ich alleine auf den Kleinen aufpasse, und er schreit auf, bin ich fast gelähmt. Was aus meinem Übersetzer wurde, weiß ich nicht. Letztstand ist, dass er gerade versucht, das Land zu verlassen.“
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