Familien getrennt
Ärmste Opfer des Umsturzes: Die Kinder von Kabul
Dort, wo Eltern Babys Soldaten übergeben, wo sich Mütter und Väter vielleicht für immer von ihren Liebsten trennen - dort ist wohl die Hölle auf Erden.
Heute, 20 Jahre nach dem vermeintlich großen Sieg der USA und ihrer NATO-Partner über die Taliban, spiegelt der chaotische Truppenabzug ein Versagen auf allen Linien wider. Der Versuch, Afghanistan die Demokratie einfach überzustülpen, ist kläglich gescheitert. Das Fluchtchaos rund um Kabuls Flughafen zeigt den Abgrund auf, in den das Land am Hindukusch gestürzt ist. Die afghanische Apokalypse gipfelte dort vor drei Tagen im grauenhaften IS-Terroranschlag: 170 Afghanen – sie wollten vor der Rache der Taliban fliehen – und 13 US-Soldaten wurden in den Tod gerissen.
Die ärmsten Opfer des Umsturzes sind aber die Kinder! Ergreifend das Bild des Vaters, der sein Baby US-Marines anvertraut. Drastisch zeigt das Foto, wie ein Soldat den weinenden Säugling am Arm packt und über den Stacheldrahtzaun hebt. Wie verzweifelt muss dieser Papa wohl gewesen sein? Er wusste nicht, wann, wo oder ob er den Kleinen jemals wiedersehen wird ... In diesem Fall war das Schicksal gnädig. Amerikanische Militärs brachten das Baby behutsam in ein Spital am Flughafengelände. „Das Kind wurde behandelt und seinem Vater zurückgebracht“, so Pentagon-Sprecher John Kirby. Selbst dem abgebrühten Politprofi war die Rührung über „den Akt des Mitgefühls“ anzusehen.
Viele Frauen und Mädchen wagen sich nicht mehr auf die Straße
Ein zarter Lichtschimmer in der afghanischen Finsternis, in der nun zehn Millionen Mädchen und Buben von humanitärer Unterstützung abhängig sind. Wegen Dürre und Wassermangel droht jedem zehnten Kind Unterernährung. Hilfslieferungen bleiben nach dem Blutmassaker beim Flughafen aus. Teile Kabuls gleichen derzeit einer Geisterstadt. Mädchen und Frauen wagen sich aus Angst vor den patrouillierenden Taliban nicht auf die Straßen. Viele dieser Sittenwächter sind Analphabeten aus der Provinz, waren zuvor noch nie in der Stadt.
Zudem sind die Horrorbilder drakonischer Scharia-Bestrafungen „ungehorsamer Frauen“ noch nicht verblasst: Burkaträgerinnen, die wegen Ehebruch im Stadion vor einer johlenden Menge gesteinigt wurden. Oder Jungfrauen, denen als Strafe für die Aufmüpfigkeit gegen eine Zwangsehe mit einem Greis Säure ins Gesicht geschüttet wurde. Neun von zehn Afghaninnen können weder schreiben noch lesen. Deshalb sind Mädchen, die Schulen besuchen und gar den Beruf einer Anwältin, Journalistin oder Politikerin anstreben, im Visier der Gotteskrieger.
Wenngleich sich heute „moderne“ Talibankämpfer bei Pressekonferenzen kosmopolitisch geben – so sind sie in Wirklichkeit wilde Wölfe im Schafspelz. Denn ihr Weltbild ist mittelalterlich: Frauen sollen Kinder gebären. Ansonsten haben sie nichts zu sagen, Basta!
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Männlichen Waisen droht Schicksal als Kindersoldaten
Buben wiederum, vor allem männlichen Waisen, droht nun die Zwangsrekrutierung als Kindersoldaten. Vor allem jetzt, da die Taliban Kanonenfutter im drohenden Duell gegen die Kämpfer des afghanischen IS-Ablegers „ISIS-K“ brauchen. Etliche Burschen überlegen, ob sie – wie schon so viele – die Flucht nach Europa, sprich nach Deutschland oder zu uns, wagen sollen. Ohne zu wissen, dass sie ohne Ausbildung, Berufs- oder Sprachkenntnisse dort kaum eine Chance haben.
Das Heer brachte 2002 Friedenshoffnung
Lachend laufen die Buben dem österreichischen Geländewagen in Kabul hinterher. Fröhlich winken sie den fremden Militärs zu. „Unsere Soldaten sind für die Kinder Kabuls Helden. Mutige Männer, die sie vor jahrelanger, grauenhafter Unterdrückung durch die Taliban befreit haben“, das berichtet der „Krone“-Reporter im März 2002 aus Afghanistan.
Denn dort, wo die Gotteskrieger den Kindern sogar das Drachensteigen verboten haben, bringt die internationale Militärtruppe große Hoffnung. Im Herbst 2002 besucht dann Verteidigungsminister Herbert Scheibner - begleitet von den Sicherheitssprechern der Parteien - das rot-weiß-rote Kontingent am Hindukusch: Empfang in Kabul mit rotem Teppich, Kooperationsgespräch mit Präsident Karzai und ein rührender Besuch in dem von Österreichern betreuten Kindergarten Shirin Gol (süße Blume).
Noch glauben alle, Politiker und Soldaten, dass die westliche Militärpräsenz den Frieden im einstigen Taliban-Kalifat wird sichern können
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