Braucht es mehr Druck?

Heftige Debatte um Kürzung des Arbeitslosengeldes

Vorarlberg
05.09.2021 07:15

Die ÖVP will bei Arbeitslosen die Daumenschrauben ansetzen und das Arbeitslosengeld staffeln, respektive kürzen. Dieses Ansinnen bezeichnet der Vorarlberger Armutsexperte Michael Diettrich als „dreist“. Er prophezeit, dass die Armut in Österreich dadurch verstärkt würde.

Christine B. hat während der Coronakrise ihren Arbeitsplatz in einem großen Handelsunternehmen verloren. Aufgrund des geringen Jobangebots ist sie seit mehreren Monaten arbeitslos. Sie gehört zu den rund 90 Prozent aller Arbeitslosen, die derzeit mit weniger als 1200 Euro netto im Monat auskommen müssen. Christine lebt unter der Armutsgrenze. Auch mit allen Familienleistungen reicht das Geld gerade für Miete, Nebenkosten, Auto und Lebensmittel - doch bald steht der Schulanfang an und ihre Tochter braucht neue Stifte und Hefte, auch die alte Schultasche wird es nicht mehr lange machen. Auf Hilfe von ihrem Ex-Partner kann sie nicht hoffen, dieser ist selbst arbeitslos und kann kaum etwas beisteuern. Aufgrund der finanziellen Engpässe kommt Christine nicht umhin, ihre Rücklagen anzuknabbern.

(Bild: ©redaktion93 - stock.adobe.com)

Damit ist sie nicht allein: Wie eine SORA-Umfrage ergeben hat, müssen fast 60 Prozent aller Arbeitslosen auf ihr Erspartes zurückgreifen, um über die Runden zu kommen. Viele leihen sich sogar Geld von der Familie und Freunden oder überziehen regelmäßig ihr Konto. Auch psychisch geht es Christine nicht gut - wie so vielen, die ohne Job sind: Sechs von zehn Arbeitslosen haben das Gefühl, sie seien kein wertvoller Teil der Gesellschaft mehr. Knapp 60 Prozent aller Arbeitslosen schämen sich für ihre Arbeitslosigkeit und versuchen, diese zu verheimlichen. Heißt unterm Strich: So gut wie niemand ist gerne arbeitslos.

ÖVP will Druck auf Arbeitslose erhöhen
Innerhalb der ÖVP scheint man indes eine ganz andere Sicht auf die Dinge zu haben, dort setzt sich zunehmend die Überzeugung durch, dass man die Unterstützungsleistungen kürzen muss, um arbeitslose Menschen zu motivieren, einen Job anzunehmen. Auch Landeshauptmann Markus Wallner kann sich ein degressives Modell vorstellen und sprach diese Woche von „sanftem Druck“, der auf die Arbeitslosen ausgeübt werden müsse. Dafür wiederum hat Michael Diettrich, Sprecher der Vorarlberger Armutskonferenz, überhaupt kein Verständnis, für ihn sind die ÖVP-Forderungen schlicht „dreist“. „Auf welchen Daten und Zahlen beruht die Annahme, dass Arbeitslose nicht arbeiten wollen?“, fragt er sich, „es kann doch niemand wirklich glauben, dass sich jemand mit 1080 Euro netto im Monat ein schönes Leben macht.“ So viel bekommt nämlich der durchschnittliche Normalverdiener mit rund 2.400 Euro brutto in Österreich, wenn er arbeitslos wird. „Damit rutscht jemand aus der Mittelschicht ganz schnell unter die Armutsgefährdungsschwelle.“

Michael Diettrich, Sprecher der Vorarlberger Armutskonferenz (Bild: Lisa Mathis)
Michael Diettrich, Sprecher der Vorarlberger Armutskonferenz

Kürzungen beim Arbeitslosengeld würden demnach die Armutsgefährdung bis zur Mittelschicht hinauf weiter anwachsen lassen. „Ein degressives Modell bestraft zudem jene zusätzlich, die sich sowieso schon schwertun, einen Job zu finden - also vor allem Langzeitarbeitslose.“ Studien besagen, dass eine Rückkehr in den Arbeitsmarkt mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit immer schwieriger wird. Diettrich fordert daher eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes auf 75 Prozent des letzten Nettoentgelts. 

Das Prinzip von Angebot und Nachfrage
Für den Armutsexperten muss aber auch bei den Löhnen angesetzt werden. „Wir hatten in den vergangenen 20 Jahre ein Überangebot an Arbeitskräften. Das hatte eine viel zu schleppende Lohnentwicklung zur Folge - vor allem bei den unteren Einkommen.“ Es gelte das Prinzip von Angebot und Nachfrage: „Jetzt, da es in gewissen Branchen an Arbeitskräften fehlt, müsste man eigentlich mehr zahlen. Das würde auch das Lohnniveau insgesamt heben. Ich behaupte einfach mal, dass die ganze Debatte um das Arbeitslosengeld nur geführt wird, um genau dies zu verhindern.“ Als Beispiel nennt er die Gastronomie. „Eigentlich müsste man dort in den Konkurrenzkampf um die besten Arbeitskräfte treten - unter anderem mit höheren Löhnen.“ Stattdessen werde aber über Kürzungen beim Arbeitslosengeld diskutiert: „Man will die Betroffenen dazu zwingen, jeden Job anzunehmen - so gewinnt man aber keine Mitarbeiter.“

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Wir hatten in den vergangenen 20 Jahre ein Überangebot an Arbeitskräften. Das hatte eine viel zu geringe Lohnentwicklung zur Folge – vor allem bei den unteren Einkommen. Jetzt, da es in gewissen Branchen an Arbeitskräften fehlt, müsste man eigentlich mehr zahlen. Ich behaupte einfach mal, dass die ganze Debatte um das Arbeitslosengeld nur geführt wird, um genau dies zu verhindern.

Michael Diettrich

Ob Druck das probate Mittel ist, um Menschen in Arbeit zu bringen, ist für Diettrich auch angesichts der aktuellen Arbeitslosenzahlen fraglich. Ende August standen in Vorarlberg 11.939 Jobsuchenden lediglich 4795 offene Stellen gegenüber. „Und nicht jeder Arbeitssuchende will Koch oder Kellner werden.“

In Vorarlberg wären aktuell rund 3000 Menschen von möglichen Kürzungen beim Arbeitslosengeld betroffen - sie gelten als langzeitarbeitslos. Noch ist aber das letzte Wort nicht gesprochen - der grüne Koalitionspartner hat den Plänen von Kurz, Kocher, Wallner und Co. jedenfalls eine Absage erteilt.

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