Den 11. September 2001 haben viele in bleibender Erinnerung - auch der damalige Bundeskanzler Österreichs, Wolfgang Schüssel von der ÖVP, die sich in einer Koalition mit der FPÖ befand. Schüssel war von 2000 bis 2007 Kanzler, davor war der heute 76-jährige promovierte Jurist u.a. Außenminister und Wirtschaftsminister. Im „Krone“-Interview spricht er über seine Erinnerung an 9/11 und die Folgen - bis hin zum „unrühmlichen“ Abzug der USA und deren Verbündeten aus Afghanistan.
„Krone“: Eine zentrale Frage zu Beginn: Wo waren Sie am Tag der Attentate?
Wolfgang Schüssel: Ich weiß es noch genau, wie es war und wo ich war. Am 11. September hatten wir ein Verwaltungsreformprojekt, mit Vizekanzlerin Susanne Riess. Andere Minister waren auch dabei. Wir sind Punkt für Punkt durchgegangen, und letztlich konnten wir 17 Prozent Dienstposten einsparen und acht Milliarden in der Verwaltung. Mitten in einer Sitzung wurden wir plötzlich gerufen. Es ist etwas Furchtbares passiert, hieß es. Wir sind in das alte Zimmer, wo die frühen Kanzler nach 1945 gesessen sind, wo heute Kanzler Kurz sein Büro hat. Dort haben wir das angesehen. Es war ein unglaublich dramatischer Impuls.
Niemand wusste, war das der Startschuss für internationalen Terror?
Ex-Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP)
Wie war die Reaktion?
Es war zunächst nicht klar, wie viele Attentäter und Flieger da beteiligt waren. Niemand wusste, war das der Startschuss für internationalen Terror? Die Amerikaner hatten schnell einen Plan. „War on Terror“ und „Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns“, hieß es von US-Präsident Bush. Jeder musste damals Farbe bekennen. Und wir waren sofort mit den Amerikanern solidarisch. Der Artikel 5 des NATO-Vertrages trat erstmals in Kraft - es handelte sich um einen Bündnisfall. Österreich ist zwar kein NATO-Land, aber politisch solidarisch mit den USA.
Wie beurteilen Sie die Entwicklungen danach?
Die NATO ist einmarschiert und hat dann die Taliban rasch besiegt. Der „War on Terror“ war schnell abgehandelt. Danach wurde es ein Befreiungskampf für Afghanistan. Dann kam das sogenannte Nationbuilding. Man wollte einen Staat nach demokratischem Muster mit allen Rechten und Marktwirtschaft errichten. Das alles 20 Jahre lang mit gigantischem finanziellen Aufwand.
Das hat jedoch nicht funktioniert ...
Es gab viele Opfer auf allen Seiten, vor allem aber auf Seiten der Zivilbevölkerung. Und der Abzug aus Afghanistan war natürlich unrühmlich und macht nachdenklich. Heute muss man nachdenken, was man besser machen kann. Wir werden andere Konfliktherde bekommen. Die Frage ist: wie können und sollen wir handeln?
Die EU ist in diesen Fragen kein stabiler Faktor. Brauchen wir ein so oft zitiertes europäisches Heer?
Die EU wird nie eine Militärmacht sein, sich nie an Kriegen beteiligen. Es geht um Friedenerhalten und Friedenschaffen. Ob in Nahost oder am Balkan. Dafür braucht man schon einen militärischen Arm. Armin Laschet (CDU-Kanzlerkandidat, Anm.) hat das richtigerweise so formuliert: „Es muss doch möglich sein, dass die EU aus eigenen Kräften einen Flughafen bewachen kann, um unsere Leute herauszuholen.“ Genau so ist es. Man kann sich nicht immer auf die Amerikaner verlassen.
Was soll man sonst tun?
Europa muss eine eigene Absicherung entwickeln. Ein europäisches Heer ist ein Schlagwort, wo sich sofort das Wasser teilt. Es gibt ja theoretisch schon die Battle Groups. Man muss das aber auch mit Leben erfüllen. Mit unserer Neutralität ist das auch problemlos vereinbar.
War es sinnvoll, diese 20 Jahre in Afghanistan zu bleiben?
Hinterher ist man immer am weisesten. Man hätte andere Optionen entwickeln können. Aber das ist vergossene Milch. Wir müssen nachdenken, ganzheitlich, ergibt es Sinn, einen Staat ganz woanders nach unseren Prinzipien aufzubauen? Gleiche Chancen für alle, Menschenrechte, freie Wahlen etc. Aber soll man das von außen einer ganz anderen Kultur quasi aufdrängen? Das ist ein zentrales Problem. Der Glaube daran ist nun nachhaltig erschüttert. Wie sehr hat der Nimbus der Amerikaner als Supermacht gelitten? Wir werden die Amerikaner noch dringend brauchen. Vor allem beim aufstrebenden China, das andere Länder von sich abhängig macht.
Was hat 9/11 in Europa bewirkt?
Überall gab es sofort massive Diskussionen, wie man ein Ausbreiten des Terrors auf Europa verhindern kann. Aber seit damals ist eine viel größere Bereitschaft da, sich mit den Bedrohungen auseinanderzusetzen. Vieles, was heute selbstverständlich ist, Kooperationen mit Behörden im Ausland etwa. Es sind ja Dutzende Anschläge auch verhindert worden. Fest steht. Wir müssen achtsam sein. Es gibt keine Insel der Seligen.
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