Corona-Sonderweg
Schweden: Ein Experiment mit vollem Risiko
Keine Masken, keine 3G-Regel, kaum Tests: Schweden geht bereits seit dem Beginn der Pandemie seinen eigenen Weg, mit vollem Risiko. Corona ist längst kein Thema mehr.
Ausländische Besucher sind in Schweden leicht zu erkennen. Sie sind jene, die eine Maske aufsetzen, wenn sie ein Hotel oder ein Geschäft betreten. Und sie sind jene, die ihren Grünen Pass griffbereit halten, wenn sie in einem Restaurant Platz nehmen. Nur: Den Grünen Pass will hier niemand sehen, 1G oder 3G kommt im Sprachgebrauch nicht vor, Masken sind nirgends zu sehen - Corona ist kein Thema.
Empfehlungen statt Lockdowns
Schweden hat von Anfang an einen eigenen Weg in der Pandemie eingeschlagen, statt Lockdowns gab es Empfehlungen. An die sich die Menschen tatsächlich gehalten haben. Dass die Bevölkerung im Norden Europas anders tickt als etwa in Österreich, bestätigt EU-Minister Hans Dahlgren: Seine Landsleute würden Ratschläge der Regierung sehr wohl befolgen.
Impfquote deutlich höher als in Österreich
Nun steigen auch in Schweden die Corona-Zahlen wieder, dennoch werden am 29. September sämtliche Beschränkungen, etwa bei Großveranstaltungen, aufgehoben. Die Impfquote ist deutlich höher als in Österreich: 77 Prozent der impfbaren Bevölkerung haben zumindest den ersten Stich erhalten, 71 Prozent sind bereits voll immunisiert.
Derzeit ist die Situation europaweit wenig beunruhigend. Aber es gibt große Unterschiede bei der Impfquote, von 91 Prozent in Malta bis zu 21 Prozent in Bulgarien.
Andrea Ammon, Leiterin der EU-Behörde zur Prävention von Infektionskrankheiten (ECDC)
Wirtschaft steht nur wenig besser da
Ganz Europa blickt seit dem Beginn der Corona-Pandemie auf Schweden, die einen sehnsüchtig, die anderen skeptisch bis schockiert. Denn die Freiheit hat einen hohen Preis: Das Land verzeichnet mehr als 14.700 Todesopfer (in Österreich sind 10.849 Personen gestorben). Die schwedische Wirtschaft ist auf dem Weg zur schnellen Erholung, sie steht allerdings nur wenig besser da als in den Nachbarländern.
Ende vergangenen Jahres ließ König Carl Gustaf aufhorchen. Der Monarch, der sich sonst aus der Tagespolitik heraushält, sagte: „Ich denke, wir sind gescheitert.“ Viele Schweden sehen das heute anders, man ist stolz auf den Sonderweg, froh darüber, dass stets Lokale und Geschäfte geöffnet hatten, auch wenn ein Großteil der Bevölkerung lange Zeit freiwillig daheimblieb. Staatsepidemiologe Anders Tegnell, der für die Strategie verantwortlich ist, gilt vielen als Held. Sein Konterfei prangt auf T-Shirts, so mancher ließ sich das Gesicht des Arztes unter die Haut tätowieren.
Nur fünf bis sieben Prozent echte Impfgegner
Nahe Stockholm liegt die EU-Gesundheitsbehörde ECDC (Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten). Leiterin Andrea Ammon zeichnet, zumindest für Europa, ein recht optimistisches Szenario: Ab dem kommenden Sommer könnte Corona bei uns vorbei sein. „Weltweit jedoch nicht“, betont Ammon. Vieles hänge aber generell davon ab, ob es nun gelinge, noch viele Menschen zur Impfung zu bewegen. Laut der Expertin sind nur fünf bis sieben Prozent echte Impfgegner. Da erntet Ammon ungläubige Blicke der österreichischen Delegation.
Ärztin: „Ich bin verärgert über die Regierung“
Lena Einhorn ist das Gesicht der Kritik am lockeren schwedischen Weg. Die Virologin, Dokumentarfilmerin und Ärztin hat den Epidemiologen Anders Tegnell, den Mann, dem die Regierung vertraut, zu ihrem Feind Nummer eins gemacht. Bei einem Gespräch mit Einhorn dreht sich mindestens jeder zweite Satz um Tegnell, schnell redet sie sich in Rage.
Der erste Lapsus sei zu Beginn des Jahres 2020 passiert, so Einhorn. Da hieß es, wer auf Urlaub in den Alpen, wo sich das Coronavirus schon fleißig verbreitet hatte, war, solle nach der Rückkehr ruhig in die Schule oder Arbeit gehen, solange keine Krankheitssymptome auftauchen. Der zweite große Irrtum folgte laut Einhorn wenig später: Als alle anderen Länder in den ersten Lockdown gingen, habe Schweden auf die Herdenimmunität gesetzt, das gehe aus diversen Schreiben hervor, sagt die Ärztin.
„Leute mit komischen Ideen gibt es überall“
Sie kritisiert auch die laxe Teststrategie, die lange gültige Absage ans Tragen von Masken, das Verschweigen der Corona-Todeszahlen in den Pressekonferenzen der Gesundheitsbehörde und dass Jugendliche zwischen zwölf und 15 Jahren nicht geimpft werden. Ob sie Tegnell für den Tod der mehr als 14.000 Opfer verantwortlich macht? Prinzipiell liege die Verantwortung für den Staat bei der Regierung, sagt Einhorn, aber die Politik hätte Tegnell nie die Macht geben dürfen. „Ich bin mehr verärgert über die Regierung“, betont die Virologin, „denn Leute mit komischen Ideen gibt es überall.“ Es besteht kein Zweifel, dass sie damit Anders Tegnell meint.
Der Chef-Epidemiologe sieht keine großen Fehler
Ein Interview mit Anders Tegnell ist übrigens keine einfache Sache, kurzerhand wird der vereinbarte Termin in ein Online-Gespräch umgewandelt, Bild- und Tonqualität sind grenzwertig. Wenig überraschend verteidigt er den schwedischen Weg, die Sterberate ist für ihn vergleichbar mit anderen Ländern. Tegnell ist kein großer Fan von Masken, er zitiert eine Studie aus Bangladesch, derzufolge die Masken nur einen zehn Prozent höheren Schutz bieten. Ein Lockdown habe viele negative Effekte, so der Epidemiologe, etwa mentale Folgen, die Wirtschaft habe man bei der Absage an allgemeine Schließungen nicht einkalkuliert.
Angesprochen darauf, welcher Fehler sein größter während der Corona-Krise gewesen sei, berichtet Anders Tegnell über die mangelnden Kapazitäten in den Krankenhäusern und meint, dass die nächste Pandemie wieder anders sein werde. Im Laufe des Interviews verschränkt er die Arme vor der Brust, so als ob er unangenehme Fragen abwehren will.
„Bin kein politischer Held“
Wie es ihm damit gehe, dass er ein Held für die Rechten, die gegen jegliche Corona-Maßnahmen demonstrieren, sei? Das sei komisch, so Tegnell, denn in Schweden werde er ganz besonders von den Rechten kritisiert. Außerdem wolle er für niemand ein Held sein, „schon gar nicht ein politischer Held“. Die hohe Impfrate in Schweden erklärt er mit 60 Jahren „harter Arbeit“, damit Menschen Vertrauen in Impfungen haben. Wie lange die Pandemie denn noch dauern werde? „Das weiß niemand“, so Anders Tegnell schulterzuckend.
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