„Krone“-Interview

Michael Mantler: Österreichs verkannte Legende

Musik
12.10.2021 06:00

Im New-York-Jazz und der Zeitgenössischen Musik ist der gebürtige St. Pöltner Michael Mantler nicht wegzudenken. Vor knapp 60 Jahren startete der heute 78-Jährige dort eine Weltkarriere, die ausgerechnet in seiner alten Heimat am den geringsten Anklang fand. Im Wiener Porgy & Bess ist Mantler aber immer wieder gern gesehener Live- und Studiogast - so wie zuletzt für sein neuestes Werk „Coda: The Orchestra Suites“. Vielleicht sein letztes, wie er im ausführlichen Interview anklingen lässt.

(Bild: kmm)

Das Schicksal meint es im eigenen Land nicht immer gut mit seinen musikalischen Perlen. Geschichten über verkannte Genies gibt es zuhauf, jene von Michael Mantler ist eine der markantesten. Der Jazz-Trompeter und Unternehmer wurde 1943 in St. Pölten geboren und zog schon als 19-Jähriger in die USA, um seine Kunst am Berklee College Of Music in Boston zu verfeinern. Schnell fand er Anschluss bei der New Yorker Avantgarde und mitbegründete das famose Jazz Composer’s Orchestra, das nicht nur durch Musik, sondern auch für seinen unermüdlichen Einsatz für bessere Bedingungen für Musiker von sich reden machte. Als Teil der sogenannten „October Revolution Of Jazz“ war Mantler auf Tuchfühlung mit Größen wie Cecil Taylor, Pharaoh Sanders oder Sun Ra und revolutionierte den US-Free-Jazz.

Aufgrund der mangelnden Vertriebsmöglichkeiten gründete er 1974 mit seiner Frau Carla Bley WATT, zu dem ein Plattenlabel, ein Tonstudio und ein Musikverlag gehörten. Das Korsett des Free Jazz war für den Niederösterreicher schnell ausgeschöpft, sodass er sich über die Jahre mit Rockmusik, Kammermusik und Klassik auseinanderzusetzen begann. Er arbeitete mit Größen wie Robert Wyatt, Nick Mason oder Marianne Faithfull und machte sich in Schweden, Dänemark und Frankreich einen Namen. Letztere beiden Länder sollten auch dauerhafte Wahlheimaten werden. Auch wenn er zwischen 2004 und 2007 dreimal mit österreichischen Preisen bedacht wurde, so ganz warm wurde er mit der alten Heimat nie. Die Anfragen blieben vereinzelt und das kompositorische Genius Mantlers über die Jahre unberührt - nur das Wiener Porgy & Bess greift dankenswerter Weise immer wieder auf seine Kunst zurück. Sein neuestes - und vielleicht letztes - Werk nennt sich „Coda: Orchestra Suites“ und ist eine Sammlung neu arrangierter und umgearbeiteter Werke seiner Alben, die sich über mehrere Dekaden spannen. Alles Weitere lässt der 78-Jährige offen, wie er uns im Gespräch erklärt, in dem er noch einmal seine einzigartige Karriere als Musiker, Kompositeur und Arrangeur von Weltrang rekapituliert.

„Krone“: Herr Mantler, zum Porgy & Bess in Wien pflegen Sie eine besondere Beziehung. Hier im Studio entstand nicht nur das aktuelle Album „Coda - Orchestra Suites“, sondern auch schon sehr viel anderes Material aus ihrer Diskografie.
Michael Mantler: Vor 15 Jahren waren wir das erste Mal hier mit „Chamber Music & Songs“. Da haben wir verschiedene Stücke meiner Karriere aufgeführt. Die Duettplatte „For Two“ mit Gitarre und Klavier haben wir hier aufgeführt, obwohl ich da selbst gar nicht mitgespielt habe. (lacht) Das „Jazz Composer’s Orchestra Update“ wurde hier umgesetzt und war organisatorisch eine Riesenaffäre. Wir haben es damals auch aufgenommen. Es gab Big-Band-Besetzungen und auch etwas im jazzigen Kontext. Wir haben hier verschiedenste Projekte ausprobiert. „The Orchestra Suites“ haben wir vor zwei Jahren live gespielt und heuer war „Concertos“ dran, das 2001 in Berlin seine Uraufführung hatte und seither nicht mehr gespielt wurde. Zum Abschluss gab es auch noch was von den „Orchestra Suites“.

Auf „Coda“ haben Sie Ihre eigenen Lieblingsstücke mit einer Zeitspanne von mehr als 40 Jahren in neuen Suiten aufgenommen. Wo beginnt man denn bei so einem Projekt überhaupt?
Zuerst höre ich mir die Musik an, die ich seit Jahren irgendwo liegen ließ. (lacht) Es war interessant das Material durchzuackern und das rauszuklauben, das ich verändert oder verkürzt wieder hören wollte. Je weiter ich in die Vergangenheit ging, umso ausufernder waren die Kompositionen. Heute bin ich eher darauf bedacht, die Dinge zu verknappen. Wir haben viele Lieder neu bearbeitet und umgearbeitet und auf „Coda“ findet man durchaus Bruchstücke von anderen Werken. Die „Twothirteen Suite“ stammt von meinem Riesen-Orchesterwerk „13“, wo Hunderte Musiker dabei waren. Alles verbindet sich, wird neu orchestriert und fügt sich auf eine intelligente Art wieder zusammen.

Ich stelle es mir ziemlich schwierig vor, all diese verschiedenen musikalischen Welten aus Ihrer langen Karriere zusammenzuziehen und so zu verbinden, dass sie klanglich Sinn machen.
Man würde denken, dass das schwer wäre, da gebe ich Ihnen Recht. Für mich war es wichtig, die ganze Periode meines Schaffens zu hören. Manche Musiker sind unverkennbar, bei anderen weiß man nicht, wer sie sind. Wenn ich eine Note von Miles Davis oder Ornette Coleman höre, dann weiß ich sofort, dass sie es sind. Für mich ist so ein Zugang zur Musik unheimlich wichtig und das zieht sich auch ein bisschen durch meine Musik. Man kann alles sehr gut erkennen.

Wollten Sie auf „Coda“ einfach Stücke aus der Vergangenheit neu erklingen lassen, oder auch ein nostalgisches Gefühl nach einem romantischen Früher heraufbeschwören?
Es ging mir darum, wie ich die Stücke jetzt hören will. Wie Solisten reinpassen. Mit der Besetzung, die stattfindet. Ich wollte nichts rekreieren, das war niemals der Ansatz. Das war wie 2014 bei „The Jazz Composer’s Orchestra Update“ - auch da ging es um eine neue Umsetzung von etwas, das schon da war. Die Idee für „Coda“ war dieselbe, nur mit einer anderen Besetzung und weiteren Musiken.

Aus etwas bereits Bekanntem etwas Unbekanntes zu machen ist für Sie spannend?
Absolut, so funktioniert mein ganzer Werkmodus. Auch wenn ich etwas Neues plane, beginne ich meist mit etwas, das irgendwo übriggeblieben ist und wo ich mich auf die unmittelbare Vergangenheit beziehe. Das gibt mir den Antrieb, etwas Weiteres zu erschaffen.

Die eigene musikalische Vergangenheit ist der Grundpfeiler für die Gegenwart und die Zukunft?
Genau. Das funktioniert für mich sehr gut. Ich habe keine Lust, etwas auf blankem Papier von vorne zu beginnen. Man bezieht sich ohnehin immer wieder auf Dinge, die schon mal da waren oder die man gerne gehört hat. Irgendwie ergibt sich alles sehr logisch. (lacht)

Forsten Sie Ihr Archiv durch und merken manchmal, aus dieser oder jener Nummer lässt sich gar nichts mehr machen?
Manche Stücke eignen sich weniger für eine Umstrukturierung. Ich hatte Jazzrock-Bands, die sich in diesem aktuellen Aspekt nicht umsetzen lassen. Das wäre dann wieder ein anderes Projekt, aber das ist für mich derzeit nicht interessant.

Vor allem in den 80er-Jahren haben Sie mit Pink-Floyd-Drummer Nick Mason, mit Bassist Jack Bruce oder Mike Stern gearbeitet. Granden der Rock- und Jazzrockszene. Wie haben sich die beiden Welten gegenseitig befruchtet?
Wir waren befreundet und ich mochte, was sie tun. Sie waren daran interessiert, mit mir zu arbeiten und so kam alles natürlich zusammen. Pink Floyd mochte jeder und Mason oder auch Jack Bruce waren extrem Jazz-interessiert und vor allem fähig. Da waren auch komplizierte und schwierige Dinge möglich. Ich muss dazu noch unbedingt Robert Wyatt nennen. Es waren gute Zeiten und alles fügte sich harmonisch zusammen. 

Was war denn der kleinste gemeinsame Nenner für diese Kooperationen?
Das kam mehr aus meiner Richtung. Die anderen mussten sich eher mir anpassen, weil ich ihre Stimmen und Klänge für meine Projekte verwenden wollte. Eben nicht auf die Art, wie sie es normalerweise machten. Sie mussten sich in eine andere Welt einleben und das gelang gut. So etwas kann man nur mit gewissen Leuten machen, die das verstehen. Mit Ringo Starr würde es wohl nicht klappen. (lacht) Die musikalische Intelligenz ist dafür extrem wichtig.

Diese Verschmelzung der Stile konnte wohl nur in den USA passieren.
Das würde ich nicht sagen. Ich war lange in den USA und auch mein Label, aber die ganzen Anstöße kamen meist aus Europa. Ich habe sehr viel in Europa aufgenommen. Als ich Anfang der 90er-Jahre hierher zurückkam, wurde alles hier eingespielt. Ich hatte vor allem in Schweden oder in Dänemark gute Kontakte zu Radiostationen, die viel gespielt haben. Dann hat sich das ein bisschen gelegt, aber irgendwann hat sich die Zusammenarbeit mit dem Porgy & Bess ergeben. Ein sehr wichtiger Schritt.

Sie sind als 19-Jähriger nach Amerika gegangen. Ein sogar aus heutiger Sicht gewaltiger Sprung ins Ungewisse.
Das war er wirklich. Im Nachhinein betrachtet war es wohl hirnrissig. (lacht) Ich ging nach New York, um Jazzmusiker zu werden. Im Prinzip war das keine gute Idee, aber es hat geklappt. In New York hat sich eine Szene ergeben. Alles hat sich gegenseitig befruchtet, aber es war schwierig. Man musste alles selbst machen, vorspielen, alles gründen. Das kommerzielle Musikgeschäft war nicht am Jazz interessiert, weil damit kein großes Geld zu verdienen war. Auch die konventionellen Jazz-Labels rümpften die Nase, weil es eine andere Szene war. Mit unserem Umbruch hatten diese Labels nicht zu tun. Atlantic waren offen dafür, eine erstaunliche Ausnahme. 

Sie waren definitiv ein Teil von etwas Revolutionärem.
Irgendwie ja. (lacht) Man lernt Beharrlichkeit und macht einfach viel auf eigene Faust. Das waren schon gute und wichtige Lehrjahre. Wir hatten das „Jazz Composer’s Orchestra“ und dann auch ein Label. Alle, die keine Plattenverträge kriegen konnten, begannen selbst etwas auf die Beine zu stellen, aber es gab keinen Vertrieb für ihre Produkte. Man musste sich also etwas ausdenken, um die Platten in den Handel zu bringen und da habe ich auch mitgemischt. Wir hatten WATT - Plattenfirma, Tonstudio und Musikverlag. Heute hat sowieso irgendwie jeder sein eigenes Label. Aber das Problem ist immer dasselbe - wie verkaufe ich etwas und wie bringe ich meine Musik an ein Publikum? Heute hat sich alles in den Streaming-Bereich verlagert, was ich sehr schrecklich finde, aber das Grundproblem ist dasselbe. Ich habe früher Alben gemacht. Zusammenhängend von Anfang bis zum Ende. Es gab eine Grundidee und eine bestimmte Sequenz. Heute kriegst du alles zerstückelt im Internet und jeder hört sich ein halbes Lied auf seinem Smartphone auf der Straße an. Der musikalische Sinn ist total zerbröckelt.

Ist dieses veränderte Hörverhalten der vornehmlich jüngeren Generation für Ihre Musik überhaupt relevant?
Eigentlich schon. Auch Klassik und Jazz werden stückweise angeboten. Man kann natürlich ganze Alben auf all diesen Plattformen kaufen, aber wenn ich mich im Netz bewege, geht es hauptsächlich um die einzelnen Titel. Es ist besser als nichts, aber es ist lächerlich, was finanziell dabei für einen Künstler rausschaut. Du kriegst eine 28 Seiten lange Statistik und verdienst vielleicht 20 Cent dabei. 

Heute werden Songs auf Streamingplattformen hin komponiert. Ein Lied sollte sofort kicken, denn sonst klickt man weiter und verdient als Künstler nichts dabei. Das ruiniert im Endeffekt jede Form des künstlerischen Anspruchs.
Selbst auf der Website meines Labels ECM kann man hinklicken und ein Hörsnippet anchecken. Das ist furchtbar, weil du überhaupt keine Idee davon hast, wie sich ein Lied entwickeln wird. 20 Sekunden bei meiner Musik bringen überhaupt nichts. Man könnte es intelligenter lösen, aber das wäre für jene, die es machen, eine Mordsarbeit. Neue Alben landen ja sofort auf allen Plattformen im Internet und wenn man mich fragen würde, würde ich durchaus etwas Repräsentatives wählen und etwas von mir preisgeben. Damit man die Musik auch versteht.

Macht das Musikerschaffen und Kreativsein in solchen Zeiten weniger Spaß?
Auf jeden Fall. Ich bin eigentlich fertig mit dem Musikgeschäft, weil es nicht mehr meine Welt ist. Es kommt immer darauf an, was angeboten wird und welche Türen sich öffnen. Ich habe mit ECM einen guten Vertrag, wo Dinge von mir rauskommen und damit bin ich ganz zufrieden. Es ist ein Haus, das alles hat und die Werkschau versammelt, das ist mir sehr wichtig. Ein guter Katalog, der repräsentativ ist. Ich habe jedenfalls keine weiteren Pläne, denn die „Concertos“-Auftritte wären ein schöner Abschluss. Ich habe auch meine Partituren herausgegeben und vertreibe sie. Derzeit sind es drei. Das ist auch eine Art, um ein Werk zu präsentieren. Man erwartet keine Hundertschaften von verkauften Exemplaren, aber es ist wichtig, dass man das Werk haben kann und es auch in der Zukunft erhältlich ist. Daran habe ich in letzter Zeit viel gearbeitet. Die Partituren neu zu schreiben und sie zu digitalisieren. Das sind dann die definitiven Versionen. 

Fühlen Sie sich heute in Österreich noch immer missverstanden oder hat sich das gelegt?
Österreich ist im Allgemeinen ziemlich gut darin, mich zu ignorieren. Es ist nicht so, dass mir außerhalb des Porgy & Bess jemand anbieten würde, etwas zu tun. (lacht) Mich ruft der Steirische Herbst nicht an, Salzburg ruft nicht an, das Klangforum ruft nicht an und die Wiener Festwochen rufen nicht an. Man könnte sich denken, dass jemand an meinem Werk interessiert sein sollte, aber ich spüre nichts davon. Ansonsten existiert man kaum. In den USA noch viel weniger, dort ist es für alle hoffnungslos. Es gibt in jedem Genre die Top-10, die kommerziellsten Leute, die überall eingeladen werden und ihre Finger im Spiel haben. Die haben noch nicht einmal genug Zeit, um ihre Aufträge durchzuführen. Manche müssen jeden Tag drei Opern ablehnen, die geschrieben werden sollten. Es bilden sich kleine Kreise und Neuentdeckungen kommen seltener vor und in Europa ist das nicht viel anders. Es gibt überall neue Musik und alternative Festivals, wo meine Musik auch gut reinpassen würde. 

Ohne das richtige Management und Promotoren kommst du nirgends mehr durch. Man kann es nicht mehr selbst machen und das habe ich satt. Ich will mich nicht mehr anbiedern. Es ist hoffnungslos und am Ende auch erniedrigend. Das „The Jazz Composer’s Orchestra Update“ haben wir vor ein paar Jahren ein paar Mal auf Jazzfestivals in Europa gespielt, aber das war schon das höchste der Gefühle. Die meisten Leute haben gar keine Ahnung, was ich nach 1968 machte und das Jazz-Werk ist jetzt mehr als 50 Jahre her. 2017 habe ich „Comment c’est“ gemacht, ein interessantes und überall umsetzbares Kammermusik-Ensemble. Da habe ich noch einmal versucht, relevante Venues anzupeilen, aber es herrschte Totenstille. Ich habe überhaupt nur eine Absage bekommen, die anderen haben Anfragen ganz ignoriert. Mit Kunst wird rüde und respektlos umgegangen.

Sie leben vorwiegend in Frankreich und Dänemark. Wird dort mit den eigenen Künstlern anders umgegangen als in Österreich?
Sie haben überall ihre Lieblinge, die alles machen und viele andere werden komplett ignoriert. Man sieht doch immer dieselben Leute. Die sind ja auch nicht schlecht, aber die Vielseitigkeit fehlt in allen Genres völlig. Veranstalter haben oft krude Ideen, welche Leute man zusammenschieben kann. Dadurch sind sie fast schon selbst die Künstler, weil sie die ganze Konzeptionierung lenken. Gewisse Festivals haben durchgehende Konzepte. Da muss alles komplett zusammenpassen. Ich verstehe das auch, denn Marketing ist wichtig, aber es schließt auch sehr vieles aus.

Hat man die Hörer in den letzten Jahren schon zu stark in Richtung Marketinggeschrei hingezogen, weg vom bloßen Genuss der Musik und ihrer Vielschichtigkeit?
Das kann gut sein. Durch die finanziellen Probleme in der Musikszene haben sich sowieso alle Ideen aufgelöst. Man wird sehen, was passiert. Bei mir steht für die nähere Zukunft sonst nichts an. Ich arbeite weiterhin an den Editionen meiner Partituren, ansonsten sind vorerst keine weiteren Aufnahmen oder Konzerte geplant. Man wird ja sehen, ob noch einmal etwas aufploppt. (lacht)

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