Album nach 40 Jahren

„Voyage“ – ABBAs pompöser Comeback-Abgesang

Musik
05.11.2021 06:00

Es ist definitiv das Comeback des Jahres. 40 Jahre nach ihrem letzten Studioalbum veröffentlichen ABBA heute „Voyage“ und der Hype kennt keine Grenzen. Allein in England wurden schon in den ersten drei Tagen 80.000 Stück vorbestellt und die Virtual-Reality-Konzerte für 2022 in London füllen sich nach und nach. Und wie klingt „Voyage“? Genau so, als wäre keine Zeit vergangen. Nur an den großen Hits fehlt es anno 2021 dann doch.

(Bild: kmm)

Die schlechte Nachricht gleich einmal zuerst: nach dem brandneuen Studioalbum „Voyage“ wird es bis auf Weiteres wohl kein dauerhaftes Comeback geben, auf dass Millionen ABBA-Fans so sehnsuchtsvoll warten. Das haben die beiden Bandsprachrohre Björn Ulvaeus und Benny Andersson in einem Interview mit dem britischen „Guardian“ unlängst relativ unmissverständlich klargemacht. Doch kann man solchen Worten trauen? In einer Zeit, wo Bands wie die Scorpions oder Judas Priest seit mehr als einer Dekade eine „Farewell-Tour“ nach der anderen spielen und Mötley Crüe nur wenige Jahre nach einer bombastischen, mit Grabsteinen (!) ausstaffierten Pressekonferenz zum theatralischen Karriereende eine allumfassende Stadiontour in den USA ankündigen? ABBA selbst, die 1982 bei einer ihrer allerletzten Fernsehauftritte in Noel Edmonds‘ „Late Late Breakfast Show“ über ein potenzielles Ende sprachen, haben sich schon damals alle Türen offengehalten und nie wirklich klare Bekenntnisse abgegeben - doch die aktuellsten Statements lassen wenig Interpretationsspielraum offen.

Üppig und bahnbrechend
Der womöglich endgültige Abgesang ist vielleicht auch richtig, denn selbst auf den Studiofotos von Björn, Benny, Anni-Frid und Agnetha hat man nur in den wenigsten Momenten das Gefühl, als würde das Quartett der wohl zweitgrößten Popband aller Zeiten wirklich in glückseliger Gemeinschaft schwelgen. „Voyage“ als gleichermaßen überraschendes wie gelungenes Abschiedsstatement zu bezeichnen kommt schon hin. Die üppigen und bahnbrechenden „ABBAtar“-Konzerte ab Mai 2022 in der eigens gebauten Halle in London heben die Popmusikgeschichte noch einmal auf ein neues Level, aber von den Mittsiebzigern jetzt noch eine weiterführend-winterliche Karriere zu erwarten wäre tatsächlich zu viel des Guten. ABBAs Comeback wird auch so würdevoll in die Annalen eingehen, zumal man vor geraumer Zeit schon ein Milliardenangebot in den Wind geschlagen hat, weil man die Zeit offenbar noch nicht für reif hielt. Den offensiven Mief des Ausverkaufs kann man den Schweden keinesfalls attestieren, dafür hätte es in der Vergangenheit durchaus lukrativere Möglichkeiten gegeben. Auch wenn Björn und Benny meinten, besagtes Angebot hätte sie persönlich so nie erreicht.

Ähnlich der deutschen Techno-Institution Scooter gelingt ABBA anno 2021 der große Wurf, plötzlich cool zu sein. Die ganze Welt freut sich über das bombastische Comeback, das aufgrund ausbleibender Liveshows der physischen Mitglieder ohnehin nur ein halbes ist. Und selbst jene, die sich schon immer über die Schlägernähe und das Uncoolsein der Band mokierten, müssen dem Projekt hinter vorgehaltener Hand Respekt zollen. „Die Band war eigentlich tot“, bekannte Ulvaeus gegenüber dem „Guardian“, „Anfang der 80er Jahre, als wir mit den Aufnahmen aufhörten, fühlte es sich so an, als ob ABBA komplett fertig wäre und es kein Gerede mehr darüber geben würde“. Der Wert und die mannigfaltige Inspiration ABBAs auf andere Bands und Musiker wurde von der Öffentlichkeit erst in den 90ern langsam wiedererkannt. Frei nach dem Motto „willst du was gelten, mach dich selten“ verzog sich die Band kollektiv aus den Schlagzeilen und befeuerte einerseits die Sehnsucht jener, die jahrelang große Fans waren und machte andererseits eine jüngere Generation neugierig auf das, was ihren eigenen Helden als Grundlage für deren Tun diente.

Altersgerecht
Auch den ständigen Gerüchten, die Bandmitglieder könnten sich untereinander nicht leiden, schob das männliche Duo im Interview einen Riegel vor. Schließlich sei man durch die Kinder und Enkelkinder von Björn und Agnetha familiär verbunden und außerdem über all die Jahre immer wieder in gutem Kontakt zueinander gewesen. Angefeuert vom Hype um das Musical „Mamma Mia!“ und die 2008 folgende Verfilmung wurde die Band hellhörig, der einstige Spice-Girls-Manager Simon Fuller brachte die Pläne 2016 ins Rollen, indem er die Virtual-Reality-Showidee aufs Tablett brachte und den körperlich nicht mehr vollfitten Musikern die Angst nahm, sich selbst noch einmal die Knochenmühle Welttournee antun zu müssen. So baut man nun eben kurzerhand eine eigene Halle und lädt die Welt zu sich ein - mitten im europäischen Reisedrehkreuz London und in einem Setting, das den gealterten Musikern die Möglichkeit zu einem entspannten Ruhestand lässt.

Auch musikalisch machen ABBA auf „Voyage“ keine Anstalten, auch nur irgendwie mit dem gängigen Zeitgeist mithalten zu wollen. Die bisher veröffentlichten Songs „I Still Have Faith In You“, „Don’t Shut Me Down“ und „Just A Notion“ haben vorgezeigt, dass die Uhren im hohen Norden bewusst stehen geblieben sind. Letztere Nummer wurde schon 1978 aufgenommen und war für das Album „Voulez-Vous“ geplant - für 2021 wurde es dann kompositorisch überarbeitet, ohne aber klanglich besonders zeitgemäß zu sein. Sämtliche Entwicklungen der Popkultur habe man bei ABBA bewusst ignoriert, wie Andersson auch dem „Guardian“ bestätigte. „In den zeitgenössischen Sachen gibt es nichts, an das ich mich anlehnen könnte. Nichts, das ich nachahmen könnte.“ Dass ABBA den 70er-Jahren treu geblieben sind, spielt aber auch einer nostalgischen Grundhaltung im Pop in die Hände. Auch wenn die sich derzeit klar in den 80ern abspielt, könnte „Voyage“ mit seinem bewusst nostalgischen Feeling für ein neues Revival sorgen. Im Prinzip spiegeln die ABBA-Tracks genau das wider, was man von der Band schon seit jeher kennt: Fans werden sich mit Freude an den zuckersüßen Ohrwurmmelodien laben, Gegner der Band den zur Schau gestellten Purismus, die Schlagerhaftigkeit und die Verweigerungshaltung jedweder musikalischer Progression bekritteln.

Große Klänge
Nach knapp 400 Millionen verkauften Alben und Welthits quer über den Globus müssen ABBA längst nichts mehr beweisen. Diese innere Ruhe hört man den gesamt zehn Songs zu jeder Zeit an und mit dem garantiert erfolgreichen Weihnachtssong „Little Things“ beweist das Quartett zudem, dass man sich bezüglich des richtigen Timings durchaus seine Gedanken gemacht hat. ABBA anno 2021 setzen auf dicke Melodien und große Emotionen. Flotte Pop-Hits befinden sich in der Minderheit, wohingegen man sich in Songs wie „When You Danced With Me“ oder „I Can Be That Woman“ von der balladesken Seite zeigt. Große Superhits wie „Dancing Queen“, „The Winner Takes It All“ oder „Waterloo“ lassen sich nicht herausfiltern, als stimmiges Alterswerk überzeugt „Voyage“ aber alle Fans und solche, die es jetzt noch werden wollen - auch wenn ein Song wie „Bumblebee“ direkt von der Kelly Family stammen könnte und man sich mit der „Ode To Freedom“ gar heftig am Pathos reibt. Übrigens habe die Band noch immer zwei unveröffentlichte Songs im Talon, die laut den Mitgliedern wirklich nicht mehr das Licht der Welt erblicken werden. Soll man das wirklich glauben? Was soll man denn überhaupt noch glauben?

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