„Ich fühlte mich allein auf einem Ozean“: So beschreibt die heute erwachsene Tochter einer psychisch kranken Mutter, wie es ihr als Kind ergangen ist. Jetzt hilft sie mit, Betroffene sichtbar zu machen und aus der Tabuzone zu holen.
Wie das ist, wenn man nie weiß, was mit der Mutter passiert, wenn man für ein paar Stunden das Haus verlässt? Wenn die Schulfreunde im Kaffeehaus sitzen, man selber aber in die psychiatrische Einrichtung fährt, um die Mama zu besuchen? Wenn es mehr Fragen als Antworten gibt?
Ariane Hötzer weiß es. Sie ist eine von 275.000 Kindern und Jugendlichen bis 19 Jahren, die mit einem psychisch kranken Elternteil aufgewachsen sind, und sie wagte nun den mutigen Schritt, mit dem Thema an die Öffentlichkeit zu gehen.
Projekt #visible vorgestellt
Bei einer Pressekonferenz in Wien zur Vorstellung des Projekts #visible (siehe Infobox unten), das auch von Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne) unterstützt wird, schildert sie stellvertretend für viele andere: „Wenn man mit einer psychisch kranken Mutter aufwächst, fühlt man sich, als ob man die einzige Person auf der ganzen Welt wäre, die sich mit all diesen Sorgen und Gedanken beschäftigt. Die einzige, die sich mit Rechnungen herumschlägt, sich den Haushalt mit einem Menschen teilt, der in einer anderen Realität lebt, sich schämt. Es fühlt sich an, als würde man ganz allein in einem Boot auf einem Ozean treiben. Woher weiß man als so junger Mensch denn, wo die eigenen Grenzen liegen, wenn sich diese schon seit der Kindheit verschoben haben?“
Online-Beratung
Mit einer österreichweiten Sensibilisierungskampagne rückt #visible (pro mente OÖ, HPE Österreich, JoJo Salzburg) die spezifischen Lebensrealitäten betroffener Kinder und Jugendlicher ins Rampenlicht sowie wirkt deren Stigmatisierung entgegen. Das Angebot für Betroffene ist kostenlos und umfasst Online-Beratung per Mail oder Chat von geschulten Pädagogen, Sozial-, Familien-, Lebensberatern, Psychologen. Mag. Vera Baubin, HPE Österreich, Hilfe für Angehörige psychisch Erkrankter: „Wir klären über die einzelnen Krankheitsbilder auf, erarbeiten Krisenpläne, Versorgungsangebote, Strategien für den Alltag der Kinder und Jugendlichen, helfen ihnen, Netzwerke aufzubauen und örtlich Ansprechpartner zu finden.“
Links: www.visible.co.at; www.hpe.at und www.jojo.or.at
In der Psychiatrie, in der die Mutter behandelt wurde, war keine Zeit, sich dem Mädchen zu widmen, oft bekam sie nur vage und viel zu wenig Information. Andere Familienmitglieder wohnten weit weg. „Kam es zu Situationen, in denen ich die Rettung rufen musste, hatte ich nie das Gefühl, es geht dabei um mich. Ich war wieder einmal unsichtbar …“
Wenn man mit einer psychisch kranken Mutter aufwächst, fühlt man sich, als ob man die einzige Person auf der ganzen Welt wäre, die sich mit all diesen Sorgen und Gedanken beschäftigt.
Ariane Hötzer
Bei den #visible-Chats mit Experten werden alle Fragen beantwortet, die jungen Menschen ernst genommen. Ariane Hötzer: „Da habe ich gemerkt, es waren die ganze Zeit auch noch andere Boote da. Die einen haben vielleicht ihr Ruder verloren, die anderen ihr Segel. Aber wir treiben alle im selben Ozean. Das hat mich handlungsfähig gemacht!“ Heute lebt Ariane Hötzer in ihrer eigenen Wohnung, es geht ihr gut - denn ihre Mama ist stabil.
Jede einzelne Person im Umfeld kann unterstützen
Psychologin Mag. Petra Rebhandl-Schartner spricht im Interview mit der „Krone“ über die oftmals im Stich gelassenen Kinder und Jugendlichen.
„Krone“: Warum wird auf Kinder psychisch Kranker häufiger „vergessen“?
Petra Rebhandl-Schartner: Solche Familien leben vielfach in Isolation. Einerseits, weil die Kinder mit den Eltern gleichsam „mitstigmatisiert“ und nicht zu Geburtstagsfeiern oder Ähnlichem eingeladen werden. Andererseits, weil die jungen Menschen selbst oft nicht wollen, dass die Eltern als krank gesehen werden. Die Kids erfahren dann aber auch keinen Rückhalt durch Dinge, die in diesem Alter wichtig wären: Freunde, Vereine, gemeinsame Unternehmungen mit anderen Familien.
Was belastet diese jungen Menschen am meisten?
Zunächst suchen sie die Schuld bei sich: „Wenn es Mama nicht gut geht, war ich nicht brav genug.“ Die Sprösslinge wollen dann besonders „pflegeleicht“ sein und ihren Eltern nicht zur Last fallen. Daher müssen sie sehr jung viel Verantwortung tragen. Sie sorgen zwischenzeitlich für ihre Geschwister, manchmal sogar für die Erwachsenen selbst. Nach außen hin versuchen sie, stets die Fassade aufrechtzuerhalten, gelten oft als besonders angepasst, gut in der Schule. Daher ist es nicht leicht, diese Kinder auch zu erkennen. Sind sie dann älter, macht es ihnen zu schaffen, die Familie zu verlassen, etwa wenn sie studieren wollen. Viele bleiben eher zu Hause, um weiter für ihre Angehörigen zu sorgen.
Wie hilft man am besten?
Das neue Projekt #visible gilt als Schritt in die richtige Richtung, auf diese Leiden aufmerksam zu machen. Für die junge Generation ist es erleichternd, auf einer Internet-Plattform zu sehen, dass es noch weitere Betroffene gibt und sie sich austauschen können. Noch immer wird über psychische Probleme zu wenig gesprochen. Außerdem ist jeder Einzelne im Umfeld gefragt: hinschauen und stetig Hilfe anbieten. Nachhaken, auch wenn es heißt: „Eh alles okay.“ Die Kinder zum Essen einladen, zum Fußball mitnehmen, zu Aktivitäten anregen. Herausfinden, welche Unterstützung im Alltag sinnvoll wäre. Für die betroffenen Kids ist es ganz wichtig, eine vertrauensvolle erwachsene Bezugsperson zu finden. Ohne (vorbeugende) Hilfe von außen und Zeiträume, in denen sie einfach Kinder sein können, neigen junge Betroffene ansonsten eher zu seelischen Leiden.
Welche professionelle Unterstützung gibt es?
Wir beim Verein JoJo versuchen, die Betroffenen darin zu unterstützen, wieder auf ihre eigenen Bedürfnisse zu achten, auch mit gemeinsamen Unternehmungen. Weiters bieten wir Informationen zum Thema psychische Erkrankungen. Wenn sie wissen, was Papa oder Mama fehlt, können sie besser damit umgehen.
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