Den ganzen November feiert das Wiener Gürtellokal Chelsea seinen 35. Geburtstag und begrüßt trotz Corona-Querelen amtliche Gäste aus allen möglichen Genres. Den Auftakt machte Stammgast TV Smith. Die britische Punk-Legende erzählte uns im Interview, wie er seine Corona-Krankheit überstand, warum der Punk elementar für die Gesellschaft war und weshalb er das Chelsea so liebt.
Die Zeit kennt keine Gnade. Noch nicht einmal vor der Wiener Gürtellokal-Institution Chelsea, das dieser Tage und Wochen seinen 35. Geburtstag zelebriert. Othmar Bajlicz und sein hochkompetentes und sympathisches Team sorgen seit mehr als drei Dekaden für die heilige Dreifaltigkeit Musik, Fußball und Bier und haben noch lange nicht genug. Fairerweise muss man sagen, dass der Gürtel erst seit 1995 bespielt wird, davor war man in der Piaristengasse im 8. Wiener Gemeindebezirk einquartiert. Dem Kult hat das freilich nicht geschadet, sind in der Journalistenzunft Interviews im Backstagebereich direkt unter der ratternden U6 mehr als kultig. Der ehemalige Fußballprofi (Meister mit Wacker Innsbruck) begrüßte über die Jahre Bands wie Soundgarden oder die Toten Hosen. Letzterer kommt immer wieder gerne vorbei, um frühmorgens seine energischen Stadthallen-Shows zu feiern.
Zu den Jubiläumsfeierlichkeiten gibt es mit Acts wie den Baits, Skero, Attwenger, Austrofred oder Clara Luzia noch bis Monatsende ein mehr als buntes, nationales Programm. Alle Infos gibt es unter www.chelsea.co.at. Vorerst noch darf nach der 2G-Regel gefeiert werden. Änderungen sind angesichts der aktuellen Lage immer möglich. Eröffnet hat die Feierlichkeiten eine weitere Institution: TV Smith. Der Brite, der als Frontmann der Adverts Ende der 70er-Jahre Punk-Geschichte schrieb, gehört fast schon zum Inventar und begeistert gut 30 Jahre lang als Solokünstler mit polit- und sozialkritischem Feuer im Herzen. Der mittlerweile 65-Jährige mag gesünder und ruhiger leben, aber wenn es um die britische Regierung, seine überstandene Corona-Erkrankung und die schiefe Weltlage geht, dann zeigt er sich alles andere als zurückhaltend. Im Interview mit ihm wurde klar, dass er dem Chelsea extrem ähnlich ist: beide stehen für Dinge ein, tragen ihre Werte nach außen und sind aus der Szene nicht mehr wegzudenken.
„Krone“: Tim, dich kennt man seit spätestens den 90er-Jahren als jemanden, der eigentlich ohne Unterlass auf Tour ist. Wie haben sich die Corona-Monate für dich angefühlt? Wie sehr haben sie dich aus deinem gewohnten Leben gerissen?
Tim TV Smith: Es war ein Schock, aber die Pause begann schon vor dem richtigen Ausbruch der Pandemie, denn ich infizierte mich vor dem ersten Lockdown. Wir waren gerade mit den Stiff Little Fingers auf Tour und haben schnell gemerkt, dass wir die Tour nicht mehr fertigstellen werden könnten. Ich war mit meiner Frau Sally unterwegs. Als wir gerade auf dem Weg zu unserem allerletzten Konzert waren, standen wir in einer Schlange für einen Kaffee und plötzlich hat jemand vor uns geniest. Das war Anfang März. Wir haben das Konzert durchgezogen, sind nach England heimgefahren und drei Tage später war alles klar. Wir kamen nicht mehr aus dem Bett, die Ärzte wussten damals noch nicht was es war und es gab auch nichts, das uns schnelle Schmerzlinderung verhalf, weil in England in Apotheken und Supermärkten sofort das absolute Chaos ausbrach. Wir wussten wirklich nicht, ob wir das Ganze überleben würden.
Als es uns etwas besser ging wurde mir gewahr, dass ich 120 Gigs zu canceln hatte. Unter anderem Shows im Vorprogramm meiner Freunde, den Toten Hosen. Das wären die größten Konzerte meines Lebens gewesen. Es war ein totaler Reset in meinem Leben. Ich schrieb daheim einen Song, dann noch einen und noch einen und so entstand plötzlich das Album „Lockdown Holiday“. Ich habe die Tracks in meinem Heimstudio aufgenommen und mich voll in die Kreativität und die Aufnahmen gestürzt, mich später auch an Online-Konzerten versucht. Mir war es nie langweilig, die Zeit daheim war sogar sehr großartig. Ich konnte endlich einmal mein Leben überdenken und habe das Internet als Plattform für Gigs gefunden. Ich habe meinen Backkatalog durchforstet und in wöchentlichen Abschnitten alle Songs meines Lebens live gespielt. Das waren dann ungefähr 250.
Da musstest du mit Sicherheit einige wieder neu erlernen.
Oh mein Gott, das waren wirklich viele. Es war wirklich Knochenarbeit. Viele davon habe ich seit Dekaden nicht mehr gespielt. Aus dem gefühlten Totenbett herauszukommen und dann mein ganzes Leben zu rekapitulieren, das war ein wirklich schöner Moment, den ich genossen habe.
Gerade die Songs deiner legendären Londoner Punk-Band The Adverts sind inhaltlich extrem stark auf deine Teenagerjahre bezogen. Ist es da nicht schwierig, sich damit noch zu identifizieren?
Die Adverts-Songs spiele ich sowieso immer, deshalb ist das nicht so ein Problem. Es kamen dann aber die 80er-Jahre, in denen ich keinen Plattenvertrag hatte und in eine tiefe Sinnkrise stürzte. Ich schrieb damals inhaltlich, als auch musikalisch sehr sonderbare Songs und in diese Ära meines Lebens zurückzugehen war auch mental eine Herausforderung. In den 80ern war ich kurz davor, verrückt zu werden. Heute kann ich in Europa und auch in den USA Gigs spielen und die Leute wollen mich sehen. Die eineinhalb Jahre Corona waren nichts im Vergleich zu den 80ern, wo ich überhaupt keinen Fuß auf den Boden bekam. Ich habe immer weitergemacht und Alben geschrieben, aber es hat nichts geklappt. Die Explorers lösten sich nach einem Album auf, weil es keinen interessierte. Ich schrieb Songs für drei weitere Alben, aber niemand nahm mich unter Vertrag, weil kein Hahn mehr nach meinen Songs krähte. Als ich bemerkte, dass ich auch alleine spielen könnte, stieg das Interesse wieder. Das war dann ab den frühen 90er-Jahren.
Also Solokünstler loszuziehen, nachdem man eineinhalb Dekaden davor nur in Bands verbrachte benötigt auch eine gewisse Portion Mut und Entschlossenheit.
Ich habe mich anfangs davor gefürchtet. Mein Freund Attila The Stockbrocker, der auch ein paar Mal im Chelsea auftrat, gab mir den entscheidenden Tipp. Er sah mich in den 80ern mit meiner damaligen Band Cheap in London vor 15 Leuten. Er war immer ein Fan von mir und sagte mir, ich solle ein paar neue Songs schreiben, mich mit der Gitarre auf die Bühne stellen und loslegen. Er hat mir einen Akustikgig in einem Café aufgetrieben und da kamen schon doppelt so viele Leute wie bei Cheap. Es war aufregend, schwierig, aber auch wirklich schön. Die Leute haben genau verstanden, was ich aussagen wollte und ich konnte mich ganz allein ausdrücken. Ich wurde süchtig danach, alleine auf der Bühne zu stehen.
1991 haben die Toten Hosen den Adverts-Klassiker „Gary Gilmore’s Eyes“ für ihre „Learning English Session One“ gecovert und daraus entstand eine dicke Freundschaft, die bis heute hält. Gleichzeitig bist du zu der Zeit als Solokünstler durchgestartet. Waren die ersten beiden Jahre der 90er der alles entscheidende Umkehrpunkt für deine Karriere und dein Leben?
Das kann man sicher so sagen. Die Toten Hosen und die mit mir befreundete Münchner Band Garden Gang haben mich schon vor der Kooperation kontaktiert, wodurch ich zu den ersten Auftritten in Deutschland kam. Der Garden-Gang-Sänger sah mich in London und schrieb mir einen Brief weil er wollte, dass ich mit Cheap in seinem Club spielen würde. Ich kam dann solo und so entstanden die dicken Freundschaften aus dem München-Umfeld. Wir haben immer wieder Touren veranstaltet und ich lernte die deutsche Sprache, weil ich merkte, dass dieses Land ein extrem wichtiger Markt ist. Ich hatte auch in England Fans, aber die Deutschen, Österreicher und auch Schweizer wollten immer mehr wissen und haben die Inhalte meiner Songs hinterfragt. Es entstanden tolle Gespräche und in Deutsch konnte ich mich auch besser ausdrücken. Außerdem wollte ich lesen können, was die Zeitungen über meine Konzerte schreiben. (lacht) Die ganze Stimmung hier bei euch war immer viel positiver als das in England der Fall war.
War das Erlernen der deutschen Sprache eine größere Herausforderung, als alleine auf der Bühne zu stehen?
Eine andere Herausforderung. Ich habe es auch mal mit Finnisch versucht, dagegen ist Deutsch wirklich extrem einfach zu erlernen. (lacht)
Warum ist die Transformation zu Singer/Songwritern und One-Man-Bands gerade bei Punk-Musikern seit jeher so beliebt?
Die kopieren mich doch nur alle. (lacht) Aber ohne Witz - beim „Rebellion Festival“ in England war ich der erste, der sich alleine auf die Bühne gestellt hat und viele Musiker von Punkbands haben dann gesehen, dass so etwas auch möglich ist. Ich habe es einfach probiert und die anderen genauso. Es gab eine Akustikbühne und das war eine gute Möglichkeit, sich in diesem Umfeld auszuprobieren. Für eine Band ist es schwierig, zu überleben. Du kannst nur in Clubs spielen und jedes Mitglied kriegt Gagen. Alleine kannst du auch vor 20 Leuten in einem Pub spielen und trotzdem mit Gewinn rausgehen. Wenn du Musik machst, geht es in erster Linie darum, so viel und oft wie möglich auf einer Bühne zu stehen. Natürlich kann man als Bandmitglied andere Jobs haben und am Wochenende auf die Bühne gehen, aber das ist nicht dasselbe.
Ist das ständige Touren und Unterwegssein für dich Passion oder Überlebenswille?
Beides. Das Livespielen ist mein Leben, ich habe darüber auch nie nachgedacht. Es ist Job und Leidenschaft zugleich. Wenn du mir die Bühne wegnimmst, dann weiß ich nicht, was ich tun soll. Ich musste für ein paar Monate runter, aber dadurch war endlich wieder Zeit für ein Album. Nur ewig könnte ich nicht daheim sitzen bleiben. Das würde nicht klappen. Für mich war es schön zu sehen, dass ich mit meinem Leben auch was anfangen kann, wenn man mir die Bühne für eine Zeit lang wegnimmt.
Was sind die größten Opfer, die du für diesen Lebensstil bringen musstest?
Meine Freundin Sally ist zum Glück immer mit auf Tour, das macht das Leben natürlich leichter. Wir waren früher in der Schule zusammen und haben uns dazwischen aus den Augen verloren, uns aber vor fünf Jahren wieder getroffen. Wir sind mittlerweile beide in unseren 60ern und müssen auf nichts mehr verzichten. Wir wollen auch nicht auf gemeinsame Zeit verzichten und sind daher auch immer zusammen bei meinen Shows unterwegs. Die Bedingungen des Reisens sind manchmal hart, aber zu zweit geht es besser.
Du bist 65 und in absoluter Topform. Das klappt natürlich nicht, wenn man den Rock’n’Roll-Lifestyle lebt…
Keine Chance. Den Klischee-Lifestyle könnte ich niemals leben. Saufen und Drogen kommen nicht vor. Ich habe einen Job und den will ich gut machen. Die Leute zahlen Geld und sollen dafür etwas geboten bekommen. Das ist das einzige Ziel.
Als jemand, der ein integraler Bestandteil der britischen Punk-Explosion in den späten 70er-Jahren war - war die Zeit damals wirklich so magisch, oder wird sie heute überhöht?
Magisch ist das falsche Wort. Die Zeit war extrem wichtig. Das Mythenbilden langweilt mich manchmal, aber gleichzeitig war diese Ära unglaublich bedeutend für Musik. Kids wie ich hatten plötzlich die Chance eine Bühne zu betreten und etwas aufzuführen. Das wäre vor der Punk-Explosion nicht möglich gewesen. Wir haben es schon vor den Adverts mit diversen Bands versucht und sind damit nirgends hingekommen, aber der Punkrock hat uns die Türen geöffnet. Jeder konnte ihn spielen, denn man musste dafür kein Instrument beherrschen. Das hat die Wände für viele Kreative eingerissen. Dem Publikum war es völlig egal, ob du spielen konntest wie Pink Floyd oder nicht - sie wollten eine echte Stimme, die sie versteht. Diese Stimme war der Punkrock. Auch wenn die Technik teilweise furchtbar war, aber es ging um den kreativen Geist, Authentizität und Ehrlichkeit.
London war in den 70ern natürlich eine ganz andere Stadt als heute. Die Grime-Subkultur etwa zeigt, dass sich auch heute noch Szenen bilden können, aber wäre so etwas wie die Punk-Explosion heutzutage überhaupt noch möglich?
Es gab immer wieder Szenen. Die Rave-Szene in den 90ern oder jetzt Grime. Man kann die Szenen aber nicht wirklich miteinander vergleichen. Punk war einzigartig, aber das ist auch der Rave.
Wenn man sich die politische Lage in Großbritannien so ansieht, hast du als deklarierter Boris-Johnson-Gegner wahrscheinlich genug Stoff für weitere Alben…
Absolut. Die Themen für Songs hören nie auf. Wir leben in einer verrückten, unfairen und bösen Welt, die momentan immer negativer wird. Als ich „Lockdown Holiday“ schrieb, hatte ich noch nicht einmal vor, überhaupt noch ein weiteres zu schreiben. Das hat sich jetzt aber geändert.
Du hast in den 80ern die Ära von Margaret Thatcher hautnah miterlebt. War diese Zeit für subkulturelle Künstler in England schlimmer als die Gegenwart?
Ich dachte damals, es könnte niemals schlimmer werden als mit Margaret Thatcher und dann kam auf einmal Boris Johnson. Er ist der absolute Tiefpunkt. Er tut immer so, als wäre er witzig, charmant und beliebt, aber er ist ein egoistischer, geltungssüchtiger und völlig fehlgeleiteter Mann, der das Land in eine furchtbare Richtung lenkt. Er tötet die Menschen mit seiner Haltung zu Corona. Wir waren mit dem Lockdown damals zwei Wochen später dran als der Rest der Welt und das hat Karrieren und Leben gekostet. Ich konnte deshalb meine Tour nicht früh genug absagen, weil sie gebucht war. Es liegt an den Führungspersönlichkeiten in der Politik, solche Entscheidungen zu treffen. Ich als Künstler kann das nicht. Man hätte Tausende Menschenleben retten können. Er hat einfach alles falsch gemacht, das ist für mich Mord.
Du warst schon immer jemand, der sich seine Informationen und Quellen außerhalb des Mainstreams gesucht hat. Heute läuft man schnell Gefahr, als Querdenker abgestempelt zu werden, denn es wird immer schwieriger, wahr von falsch und gut von böse zu unterscheiden.
Das ist sogar verdammt schwierig. Dafür mache ich auch Typen wie Boris Johnson verantwortlich. Gerade auf den Social-Media-Kanälen verbreiten sich Geschichten, die absolut absurd sind, die Menschen aber für bare Münze nehmen. Johnson bewirbt solche Plattformen auch noch aktiv, weil sie ihm zugutekommen. Ihm ist es egal, ob etwas wahr ist oder nicht, Hauptsache es nützt seiner Popularität. Wenn du glaubst, das Coronavirus wäre nicht gefährlich und du bräuchtest keine Masken zu tragen, wird er dir das bestätigen, weil er damit deine Stimme bekommt. In ein paar Jahren wird er als Premierminister abtreten, aber er wird noch so viel Geld einfahren wollen, wie er nur kann. Furchtbar.
Kommen wir in die englische Gegenwart. Dort haben sich Bands wie die Idles, Sleaford Mods, Shame und Co. in den letzten Jahren zu richtiggehenden Stars entwickelt. Aus einer kantigen, extrem polit- und sozialkritischen Subkultur heraus. Das hat doch auch was von Punk?
Die Sleaford Mods beeindrucken mich wirklich. Ich habe sie vor ein paar Jahren einmal live gesehen und dachte nicht, dass die jemals vor so vielen Leuten auftreten würden. Ich hätte ihnen nicht mehr als 40-50 Leute zugetraut und nun sieh dir das an. Einfach großartig!
Welche Beziehung hast du zum Wiener Chelsea, in dem du Stammgast bist und dessen Konzertfeierlichkeiten zum 35. Geburtstag du am Mittwoch eröffnet hast?
Ich bin immer sehr glücklich hier zu sein. Ich bin seit vielen Jahren da und es gehört zu meinen absoluten Lieblingsclubs. Das ist auch nicht einfach so dahingesagt, denn der Club hat etwas ganz Besonderes, das ich nicht in Worte fassen kann. So lange nicht da wie während der ersten Coronalockdowns war ich wohl noch nie zuvor. Mit dem Fußballklub habe ich aber nichts am Hut. Ich gehöre zu der Handvoll Musiker, die sich überhaupt nichts aus Fußball machen. Daraus sollten Gleichgesinnte wie ich wohl einen eigenen sinnlosen, furchtbaren Fußballklub machen. (lacht)
Wie wichtig ist dir Freundschaft in diesem doch sehr kantigen Geschäft?
Sehr wichtig. Ich würde Othmar und David vom Chelsea als Freunde bezeichnen, auch wenn wir uns vielleicht nur einmal pro Jahr sehen. Die Toten Hosen und viele andere Musiker sind auch sehr gute Freunde und ich bin froh darüber, dass es solch enge Verbindungen in der Szene gibt.
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