Psychiater zu Corona:

„Von der Kassierin redet jetzt kein Mensch mehr“

Oberösterreich
18.11.2021 06:00

Die Corona-Pandemie leerte beim Kongress der Ordensspitäler in Linz wieder die Reihen. Psychiater Reinhard Haller sprach virtuell zu 600 Gästen: „Mit Empathie, Zuversicht und Wertschätzung die Krise überwinden.“

„OÖ Krone“: Herr Professor, am Anfang der Pandemie klatschten alle für Pflegekräfte und Kassierinnen. Jetzt fehlt das alles, ganz im Gegenteil.
Reinhard Haller: Das erlebe ich auch als das große Problem. Österreich ist sehr gut durch die erste Welle gekommen, besser als die meisten Länder, jetzt ist genau das Gegenteil der Fall. Es hängt damit zusammen, dass die Wertschätzung verloren gegangen ist.

Wohin ist sie verschwunden? Die Leute machen dasselbe, teils noch intensiver.
Wenn jemand über längere Zeit etwas Anerkennenswertes tut, neigt man dazu, dies nicht mehr anzuerkennen. Suchtpatienten haben mir oft berichtet, dass sie von allen gelobt und bestätigt wurden, als sie eine Entwöhnungskur gemacht haben. Jetzt, wo sie Jahre abstinent leben, sagt schon seit Jahren kein Mensch mehr ein Wort des Lobes. So ist es auch in der Pandemie.

Verdrängen wir also ein Stück weit die Tatsachen?
Je länger die Pandemie dauert, desto stärker hat die Verdrängung zugenommen. Beim ersten Lockdown hat man unglaubliche Maßnahmen eingesetzt, und jetzt, da es zehnmal so bedrohlich ist, tut man nichts mehr. Und diese Verdrängung trifft auch die Leistung der Mitarbeiter in der Pflege.

Reinhard Haller nach seinem Vortrag im Linzer Desing Center im Interview mit „Krone“-Redakteur Markus Schütz. (Bild: Alexander Schwarzl)
Reinhard Haller nach seinem Vortrag im Linzer Desing Center im Interview mit „Krone“-Redakteur Markus Schütz.

Und auch der vielbeklatschten Kassierin.
Von der redet doch kein Mensch mehr.

Was hat sich geändert?
Die große Stärke – ob die Entscheidungen richtig waren oder nicht, sei dahingestellt – zu Beginn der Pandemie war der Zusammenhalt. Und Zusammenhalt hat viel mit Wertschätzung zu tun. Man sagt, ich habe zwar eine andere Meinung, aber ich halte es aus, und ich ziehe mit dir an diesem Strick. Dieser politische und gesellschaftliche Zusammenhalt ist verloren gegangen.

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Wertgeschätzt zu werden ist wichtiger als der Verdienst. Aber 70 Prozent der Pflegekräfte fühlen sich laut einer aktuellen Umfrage nicht wertgeschätzt.

Psychiater Reinhard Haller im "Krone"-Interview

Wertschätzung gegenüber Impfgegnern oder Skeptikern gibt es eigentlich nicht mehr. Ihre Kollegin, die Psychiaterin Adelheid Kastner, sagte in einem Interview offen, Impfgegner sind dumm.
Also das finde ich schade, es verhärtet Fronten. Dumm ist nicht gerade ein sehr wertschätzender Ausdruck. Man muss bedenken, dass es unter den Impfskeptikern sehr unterschiedliche Gruppen gibt. Die Ängstlichen, deren Sorgen man ernst nehmen soll und die Zuwartenden. Die Querulanten sind die kleinste, aber problematischste Gruppe, da sie den Ton angeben, obwohl sie nur vielleicht zwei Prozent der Impfgegner ausmachen.

Diskutieren Sie, der Sie dreifach geimpft sind, in Ihrem persönlichen Umfeld noch mit Impfgegnern?
Ich kann immer nur sagen, was ich für mich entschieden habe. Ich gehe nicht davon aus, dass ich ein Masochist bin und mir selbst etwas Schlechtes tue. Ich rate allen Impfskeptikern, den Arzt ihres Vertrauens zu fragen, ob der sich hat impfen lassen. Ich lasse mich aber auch auf Diskussionen ein, auch wenn es mir nicht immer gelingt, ganz sachlich zu bleiben. Nur nicht mit Menschen, die militant sind, diesen liefert man ja sonst nur Material.

Wo sehen Sie den Grund für die Impfskepsis?
Also ich muss eingestehen, dass ich nicht damit gerechnet hätte, dass die Impfbereitschaft so niedrig ist. Da gibt’s einen Aspekt, dass am Anfang der Impfzeit sich viel Pflegepersonal nicht impfen ließ. Das hat mir auch am Anfang Angst gemacht, wenn gerade diese informierte Gruppe Bedenken hat. Das hat sich inzwischen radikal gewandelt.

(Bild: Alexander Schwarzl)

Was ging noch schief?
Ich muss ehrlich sein. Ich dachte auch nach dem ersten Lockdown, dass das vorbei ist nach dem Sommer. Es hätte von den Wissenschaftern mehr betont werden müssen, dass viel Unsicherheit dabei ist. Es hieß, dass die Pandemie besiegt sei, dass die Impfung bei 80 Prozent der Leute zu 100 Prozent wirke, und wenn das dann nicht so eintritt, erschüttert das das Vertrauen.

Sie sagten im Vortrag, dass die Vorbildfunktion der Führungskräfte so wichtig ist. Wenn diese nicht rauchen, wird im Betrieb weniger geraucht. Gilt das auch in der Pandemie?
Ich habe den Ruck durchs Volk vermisst. Da hätten wir alle, und ich nehme mich nicht aus, viel mehr tun müssen, um die Multiplikatoren zu erreichen. Den Sommer über war es wirklich beschämend, dass nichts getan wurde, als die Zahlen niedrig waren. Man hat es verschlafen, obwohl man wusste, dass wieder eine Welle kommen wird. Dort sehe ich den größten Fehler, dass man nicht mit positiver Verstärkung eine Aufbruchstimmung erzeugt hat, und jetzt muss man mit Druck arbeiten.

Derzeit wächst der Druck auf die Nicht-Geimpften, man macht ihnen das Leben so schwer wie möglich. Es wirkt, als ob damit Gegendruck ausgelöst wird. Nach dem Motto: Jetzt erst recht nicht.
Bei denen, die aus Überzeugung dagegen sind, wird der Gegendruck größer. Aber die große Gruppe sind die Gleichgültigen, und dass man bei diesen den Druck erhöht, ist legitim. Ich bin zwar noch nicht für eine Impfpflicht, aber als ultima ratio würde ich nicht davor zurückschrecken. Auch nicht vorm totalen Lockdown. Denn wenn es brennt, dann muss man löschen und sich nicht über mehr Brandmelder Gedanken machen.

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