Lockdown und Impfpflicht: Dieser Kurswechsel des Kanzlers verärgert Geimpfte und Ungeimpfte. Mit Conny Bischofberger spricht Alexander Schallenberg über zersetzende politische Kräfte, eine gefährliche Stimmung in unserem Land und seine europaweit für Aufsehen sorgende Corona-Strategie.
Der Ballhausplatz ist abgeriegelt, am Eingang zum Bundeskanzleramt finden strenge Zutrittskontrollen statt. Ab Montag brauchen Besucher neben der Impfung auch noch einen negativen Corona-Test. In seinem Büro empfängt der Bundeskanzler an diesem Samstagvormittag eine Reihe von Medienvertretern. Er trägt einen dunkelgrauen Anzug und eine dezente dunkelrote Krawatte mit Karos, obwohl er Tierkrawatten liebt.
„An einem Tag wie heute würde ich nicht zur buntesten Krawatte greifen“, es sei für alle eine schwierige Situation, erklärt er und wirft einen Blick aus seinem Fenster hinüber Richtung Heldenplatz, wo sich gerade Tausende Demonstranten versammeln. Mittlerweile hängen auch seine eigenen Bilder an den Wänden, unter anderem ein Gemälde des Südtiroler Künstlers Klaus Pobitzer, das Tiroler Schützen zeigt.
„Krone“: Herr Bundeskanzler, wie kann es sein, dass ab Montag zwei Millionen Menschen zu Hause bleiben sollen und in Wien liefern sich Demonstranten gegen die Corona-Maßnahmen - überwiegend ohne Masken und Abstand - Gefechte mit der Polizei?
Alexander Schallenberg: Vieles ist in diesem Land momentan schwer verständlich, und das gehört definitiv dazu. Aber es ist nun einmal so, dass die Versammlungsfreiheit eine der Grundsäulen einer offenen demokratischen Gesellschaft ist. Menschen sollen ihre Meinung äußern können. Ich verstehe, dass es vielen sauer aufstößt, wenn eine Minderheit, die sich nicht solidarisch gezeigt hat, die Polizei dermaßen herausfordert - hier geht es letztendlich auch um die gesundheitliche Integrität der Beamtinnen und Beamten. Das ist eigentlich eine Zumutung.
Könnte so eine Demonstration, wenn sich Teilnehmer nicht an die Regeln halten, nicht auch aufgelöst werden?
Die Stimmung ist sehr angespannt. Ich habe aber großes Vertrauen in unsere bestens geschulten Polizistinnen und Polizisten, dass sie vernünftig mit dieser Situation umgehen werden und die Sicherheit gewährleisten. Sie haben meinen höchsten Respekt für ihre Arbeit.
Was haben Sie heute (Samstag, Anm.) morgen empfunden, als Sie die massiven Sicherheitsvorkehrungen und Polizeipräsenz am Ballhausplatz gesehen haben?
Das ist kein schönes Gefühl. Ich bin jemand, der Menschen zusammenführen und verstehen will, der immer das Gespräch sucht. Ich muss sagen, dass ich derzeit gelegentlich an meine Grenzen stoße. Ein Entwurmungsmittel zu empfehlen, das für Tiere gedacht ist, das ist ein Grad an Verantwortungslosigkeit, an Verleugnung der Realität, für die ich als rationaler Mensch kein Verständnis mehr aufbringen kann.
FPÖ-Chef Herbert Kickl hat gesagt, Österreich sei jetzt eine Diktatur. Was sagen Sie?
Das ist absurd. Ich erwarte mir von ihm keine Entschuldigung, es würde schon reichen, wenn er einfach schweigen würde.
Kickl behauptete, das Virus könne schon im Vorfeld behandelt werden, und nannte erneut dieses Entwurmungsmittel. Haben Sie ihn damit konfrontiert?
Nein, habe ich nicht. Was die FPÖ und auch andere politische Kräfte in diesem Land verbreiten, ist ein Attentat auf unser Gesundheitssystem. Das ist ein Grad an Zersetzung und Verantwortungslosigkeit, das einfach fassungslos macht. Es richtet sich gegen die Vernunft und gegen die Wissenschaft. Diesen Kräften muss bewusst sein, dass sie eine enorme Verantwortung auf sich laden. Sie sind mitverantwortlich dafür, dass wir jetzt in dieser Situation sind.
Warum sagen Sie das Herbert Kickl nicht?
Weil ich nicht mehr glaube, dass er durch Worte zu überzeugen ist.
Hat er sich politisch isoliert?
Ja. Nicht einmal der Front National (seit 2018 in Rassemblement National umbenannt, Anm.) in Frankreich geht so weit, nicht einmal Marine Le Pen. Die FPÖ hat hier leider eine Extremposition eingenommen, und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass alle Mitglieder, alle Funktionäre und alle Abgeordneten - von denen einige ja selbst geimpft sind - sich damit wohlfühlen. Da sollte der FPÖ-Chef einmal Gewissenserforschung machen.
Verstehen Sie die Wut? Sowohl jener Menschen, die auf die Straße gehen, als auch die Wut der Geimpften, denen man monatelang gesagt hat, dass sie auf nichts mehr verzichten müssen.
Zu den Demonstranten: In einer Gesellschaft hat man auch eine Verpflichtung dem Gemeinwohl gegenüber. Es stimmt, dass es Konsens unter allen Parteien war, dass es keine Impfpflicht geben wird. Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich das selbst vor wenigen Tagen noch sehr skeptisch gesehen habe. Wenn aber eine Minderheit für sich in Anspruch nimmt, sich nicht impfen zu lassen, dann landen diese Leute ja trotzdem auf den Intensivstationen und nehmen anderen Patienten die Plätze weg. Die Wut der Geimpften verstehe ich natürlich. Das hat eine schwierige psychologische Komponente, wenn man der Mehrheit der Bevölkerung, die alles richtig gemacht hat, die verantwortungsbewusst gehandelt hat, für die nächsten drei Wochen Freiheiten wegnimmt. Mein Ziel war es auch immer, die Geimpften in ihren Freiheiten nicht zu beschränken. Ich bedaure daher zutiefst, dass wir diesen Schritt des Lockdowns für alle setzen mussten. Aber letztlich sitzen wir alle in einem Boot, keiner kann sich aus seiner gesellschaftlichen Verpflichtung und Verantwortung ausklinken. Sonst würde das System kippen. Erlauben Sie mir an dieser Stelle, dem Pflege- und Gesundheitspersonal meinen Dank und meinen tiefsten Respekt auszusprechen. Das Ganze zieht sich jetzt seit 20 Monaten, und es ist eine enorme menschliche Herausforderung, um das Leben von so vielen Menschen zu kämpfen - auch jenen, die sich selbst nicht durch eine Impfung schützen wollten.
Sie haben sich am Freitag in der „ZiB 2“ entschuldigt. Normalerweise entschuldigt man sich für Fehlverhalten. Welchem Umstand galt Ihre Entschuldigung?
Ich bin der Letzte, der behauptet, dass das Krisenmanagement perfekt funktioniert hat oder ich selber fehlerfrei gearbeitet habe. Ich habe mich entschuldigt, dass wir über 65 Prozent der Bevölkerung bitten müssen, nun noch einen Akt der Solidariät zu setzen gegenüber einem Teil der Bevölkerung, der sich unsolidarisch gezeigt hat.
Glauben Sie, dass die Bevölkerung diese Entschuldigung annehmen wird?
Ich hoffe es. Der Lockdown für alle bis zum 13. Dezember ist jetzt eine nötige, kurzfristige Maßnahme. Langfristig ist aber die Impfpflicht die einzige Perspektive, mit der wir aus diesem Teufelskreis wieder herauskommen.
Warum soll man Ihnen glauben, dass der Lockdown nur bis zum 13. Dezember geht? Können Sie eine Verlängerung ausschließen?
Es gibt eine klare politische Vereinbarung zwischen allen Landeshauptleuten, den Koalitionsparteien und der größten Oppositionspartei, den Sozialdemokraten, und daran halten wir uns. Die Bevölkerung braucht eine klare Perspektive, ein offenes Ende darf nicht sein. Was aber klar ist: Für die Ungeimpften bleibt der Lockdown auch danach aufrecht.
Es ist kein Geheimnis, dass Sie den Lockdown ursprünglich nicht wollten. Wurden Sie von Michael Ludwig und Hans Peter Doskozil und auch von den Länderchefs unter Druck gesetzt?
Das war eine sehr ernsthafte, sehr offene Diskussion, die sich bis in die Nachtstunden, man könnte auch sagen bis in die Morgenstunden, gezogen hat. Das zeigt ja, dass wir es uns nicht alle leicht gemacht haben. Wir haben alle mit uns selber gerungen.
Aber Sie sind mit einer anderen Idee nach Tirol zu diesem Treffen gefahren. Mit welcher?
Ich hatte die Hoffnung, dass die drastischen Maßnahmen, die wir schon davor gesetzt hatten - 3G am Arbeitsplatz, ein Lockdown für Ungeimpfte, der international für großes Aufsehen gesorgt hat - schneller wirken, es gab dafür gewisse Anzeichen. Es war sehr wichtig, dass wir das lange und ernsthaft diskutiert haben. Kein Teilnehmer hat die Situation auf die leichte Schulter genommen, weil uns allen klar war, was das für die Menschen bedeutet. Die Gespräche waren vom Wunsch getragen, das Richtige zu tun, der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung zu entsprechen. Es gibt neben dem Gesundheitsaspekt natürlich auch den psychosozialen Aspekt, die Bildung, die wirtschaftlichen Folgen. Ein Politiker muss all diese Aspekte mit einbeziehen.
Der Bundespräsident hat bedauert, dass die richtigen Maßnahmen zu spät kamen. Haben Sie rückblickend gesehen zu lange gewartet?
Das sehe ich nicht so. Wir haben mit 3G am Arbeitsplatz, 2G im Freizeitbereich und dem Lockdown für Ungeimpfte sehr drastische Maßnahmen beschlossen, die auch Wirkung gezeigt haben. Immerhin haben sich letzte Woche über eine halbe Million Menschen impfen lassen. Es hat sich aber gezeigt, dass das noch nicht ausreicht, um die Trendwende zu schaffen.
Könnte es sein, dass der Lockdown auch dazu dient, die Akzeptanz für die Impflicht zu erhöhen?
Nein. Die Impfpflicht brauchen wir, um endlich dieser Spirale aus Virenwellen und Lockdown-Diskussionen zu entkommen. Wir wollen doch bitte nicht 2022 alles noch einmal durchmachen. Wir müssen aus dieser Endlosschleife herauskommen und das Infektionsgeschehen unter Kontrolle bringen.
Österreich ergreift als erstes Land in Europa diese doch sehr drastische Maßnahme. Sie waren sehr lange Außenminister, gibt es Anzeichen, dass andere Länder das übernehmen wollen?
Es ist bemerkenswert, wie sehr das öffentlich wahrgenommen wird, das ist spürbar an Dutzenden von internationalen Interviewanfragen - aus Deutschland über Großbritannien, Frankreich, Italien bis hin zu den USA. Österreich ist bereit, Neuland zu betreten, wenn es darum geht, aus dieser Pandemie auszubrechen. Charles Popper hat gesagt: „Gegenüber den Intoleranten kann man nicht Toleranz üben, sonst stirbt die Toleranz.“ Das geschieht jetzt, es wird aus der Verantwortung notgedrungen eine Pflicht.
Österreich hat auch bezüglich der Infektionszahlen Neuland betreten. Sie sind so hoch wie fast nirgends. War es ein Fehler zu glauben, man könnte Impfgegner überzeugen?
Ich habe zu lange daran geglaubt. Neben den Experten, der Wissenschaft und der Politik haben ja auch die Medien in diesem Land wichtige Überzeugungsarbeit geleistet. Nun müssen wir uns eingestehen, dass wir bisher nur zwei Drittel der Bevölkerung erreicht haben. Ich denke aber, dass nicht alle 30 Prozent jener, die noch umgeimpft sind, vehemente Impfgegner sind. Einen Teil können wir sicher noch überzeugen.
Befürchten Sie nicht, dass die Gräben jetzt tiefer werden? Eine Impfpflicht macht Impfgegner doch nur noch wütender.
Das ist das, was mich am meisten beunruhigt und bedrückt. Als Politiker möchte ich gemeinsame Lösungen finden. Aber wenn ein Drittel der Gesellschaft nicht mitmacht, müssen wir Gegenmaßnahmen setzen.
In den sozialen Netzwerken werden Sie von einigen „Herr Bundeskanzler Spaltenberg“ genannt.
Das ist für mich ehrlich gesagt irrelevant.
Ihr Vorgänger Sebastian Kurz hat im Sommer versprochen, dass die Pandemie für Geimpfte vorbei sei. Haben Sie sich zuletzt mit ihm ausgetauscht?
Natürlich.
Haben Sie sich auch beraten?
Er ist ÖVP-Chef, ich habe mit ihm gesprochen, wie ich auch mit anderen Parteichefs Gespräche geführt habe. Wir hatten im Sommer alle die Erwartung, dass wir die Impfquote nach vorne bringen und es ist zutiefst bedauerlich, dass wir als Staat mit einem super Gesundheitssystem, auf das wir zu Recht stolz sind, ohne Not in diese Situation gekommen sind. Wir hätten es in der Hand gehabt, wir haben genug Impfstoff, ganz im Gegensatz zu vielen Regionen dieser Welt, die nicht genug Impfstoff haben.
War Sebastian Kurz zuletzt auch für Lockdown und Impfpflicht?
Die Entscheidungen, die wir in Tirol getroffen haben, sind ein gemeinsamer Beschluss der Regierungsparteien, der SPÖ und der Landeshauptleute.
Haben Sie persönlich eigentlich schon Ihren dritten Stich?
Nein, als Genesener habe ich meine erste Impfung erst etwas später bekommen. Die dritte Impfung werde ich um Weihnachten haben.
Kennen Sie in ihrem Bekanntenkreis einen Impfgegner?
Ich glaube, wir alle kennen in unserem Bekanntenkreis Menschen, die zaudern und zögern.
Macht es Sinn, mit diesen Leuten zu diskutieren?
Absolut. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass man mit Vernunft, mit wissenschaftlich fundierten Argumenten, Menschen überzeugen kann. Das ist sicher keine leichte Aufgabe. Aber wir alle sollten Überzeugungsarbeit leisten. Je mehr wir erreichen, desto schneller kommen wir aus dieser Pandemie wieder raus.
Herr Bundeskanzler, Sie sind mit einer Aussage aufgefallen, die manche hat schmunzeln lassen. Ein Buch lese sich leichter von hinten. Welches haben Sie da gemeint?
Lacht. - Ich wollte sagen, dass man rückblickend gesehen immer gescheiter ist. Tatsächlich ist es für mich ein besonderes Vergnügen, wenn ich in eine Buchhandlung gehe, ein Buch aufschlage und mir die erste und die letzte Seite anschaue. Ich bin ein sehr haptischer Mensch. Um auf Ihre Frage zu kommen: Es gibt schon Bücher, die ganz egal wo man sie aufschlägt, immer ein Genuss sind.
Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen?
Peter Frankopan, „The Silk Roads“, eine Buch über die geostrategische Bedeutung der Seidenstraße in der Menschheitsgeschichte.
Haben Sie sich mittlerweile eigentlich schon an die Anrede „Herr Bundeskanzler“ gewöhnt?
Ich glaube, man sollte sich nie zu sehr daran gewöhnen, weil dieses Amt nur ein vorübergehendes ist.
Sie waren Zeit Ihres Lebens Diplomat. Hilft Diplomatie als Bundeskanzler oder ist sie hinderlich?
Diplomatie ist nie falsch. Es bedeutet für mich, zu verstehen, wo das Gegenüber herkommt, wo seine Schmerzgrenzen und roten Linien liegen. Das ist auch in der Politik sehr hilfreich.
Geboren am 20. Juni 1969 als Sohn des Karrierediplomaten Wolfgang Schallenberg in Bern. Aufgewachsen in Indien, Spanien und Paris, den Botschafterstationen des Vaters. Jus-Studium an der Uni Wien und Paris. 1997 kommt er ins Außenamt, von 2008 bis 2013 ist er unter anderem Pressesprecher von Ursula Plassnik und Michael Spindelegger. Unter Außenminister Sebastian Kurz wird er 2014 Leiter für strategische außenpolitische Planung und 2016 Sektionsleiter für Europa. Im Juni 2019 übernimmt Schallenberg nach der Ibiza-Affäre das Außenministerium von Karin Kneissl und das Kanzleramtsministerium von Gernot Blümel - zuständig für EU, Kunst, Kultur und Medien. Nach der Übergangsregierung von Brigitte Bierlein ist er der einzige Minister, der von Kurz ins Kabinett Kurz II übernommen wird. Am 11. Oktober 2021 wird er vom Bundespräsidenten als dessen Nachfolger angelobt. Schallenberg ist geschieden und Vater von vier Kindern.
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