krone.tv in der Türkei
An dieser Grenze endet der Traum von Europa
Der Flüchtlingsdeal der EU mit der Türkei: In Van, dem Grenzgebiet zwischen Ostanatolien und dem Iran, wird er mit allen Mitteln umgesetzt, unter anderem mit einer 60 Kilometer langen Mauer. Ein Lokalaugenschein im Bollwerk gegen illegale Migration.
Grenzbeamte der Jandarma, einem paramilitärischen Verband in der Türkei, bei ihrer Arbeit. Jedes Fahrzeug, das die iranisch-türkische Grenze passieren will, wird streng kontrolliert. Kameras erfassen im Vorfeld Kennzeichen. Wenn das Auto als gestohlen gemeldet ist, handelt es sich aller Voraussicht nach um Schlepper. Es ist eine jener Grenzen, die Flüchtlinge überqueren müssen, um vom Iran in die Türkei und von dort weiter nach Europa zu kommen. Der Großteil der Migranten stammt aus Afghanistan.
2023 soll 300 Kilometer lange Mauer stehen
krone.tv auf der Fahrt hinauf zum Berg Ararat, ein ruhender Vulkan. Irgendwann bleibt das Auto im Schnee stecken, das letzte Stück legen wir mit der Jandarma-Gruppe zu Fuß zurück. Die Gesichter der Militärs dürfen wir nicht filmen, nur deren Schatten - angeblich aus Sicherheitsgründen.
Über 100.000 Flüchtlinge aus Afghanistan seien in den vergangenen Jahren vom Iran aus über diese lokalen Berge illegal in den Osten der Türkei eingereist. Hier erstreckt sich eine 60 Kilometer lange Mauer aus Beton, eine Grenzmauer, um die illegale Migration einzudämmen. Bis 2023 soll sie 300 Kilometer lang sein, versehen mit Stacheldraht und Wärmebildkameras. Zudem werden auch Gräben errichtet.
„Kein Geld von der EU“ für die Grenzmauer
Die Regierung hat für die Journalistendelegation, der noch ein italienisches Kamerateam angehört, ein Interview mit dem Gouverneur von Van arrangiert. Mehmet Emin Bilmez sitzt vor der türkischen Flagge und zwei Porträts - eines von Erdogan, das andere von Atatürk. Der Gouverneur verteidigt die Mauer und ihren Preis. „Es ist türkisches Geld, mit der wir diese Grenzmauer bauen, eineinhalb Milliarden hat sie bis jetzt gekostet. Finanziert aus unserem Staatshaushalt. Kein Cent stammt von der Europäischen Union.“
Nur einige Sicherheitstürme seien mit EU-Geldern errichtet worden. Mehmet Emin Bilmez appelliert an Europa, eine gemeinsame Lösung für Menschen auf der Flucht zu suchen. „Es kann nicht sein, dass nur in der Türkei Schutz suchen, wir müssen ihnen auf dabei helfen, in ihre Heimatländer zurückzukehren.“
Hier spricht er die Rolle Europas an: 2016 hat Europa der Türkei sechs Milliarden Euro für die Versorgung von Flüchtlingen zugesichert. Gestaffelt soll es in verschiedene Projekte von Bildung bis Arbeitsmarkt investiert werden. Mehr als die Hälfte wurde bis jetzt ausbezahlt - immerhin 3,2 von 4,7 Milliarden Euro. 45,6 Millionen davon stammen aus Österreich.
Besuch in einem Rückführungszentrum
Am nächsten Morgen steht ein Besuch in einem Rückführungszentrum auf dem Programm. Am Eingang zum umzäunten Camp weht die türkische Flagge. Das Zentrum ist die erste Station für illegale Migranten, nachdem sie von den türkischen Behörden aufgegriffen werden. Und meistens die letzte.
750 Flüchtlinge haben hier Platz, momentan sind 50 Prozent der Plätze belegt. Im Inneren des Gebäudes findet gerade Sprachunterricht statt. Es sind dieselben Bilder, die auch ein deutscher Fernsehsender aufgenommen hat. Die Betreiber sind bemüht, das Camp im besten Licht zu zeigen. Kunstunterricht, ein Kindergarten mit bunten Möbeln, eine Bibliothek mit Weltliteratur in mehreren Sprachen, ein Friseur. Hier können sich Gestrandete ihre Haare schneiden lassen.
Ein Sicherheitsbeamter überwacht das Handballspiel von Jugendlichen. Manchmal ist er auch Schiedsrichter.
„Wir waren zweimal kurz davor zu erfrieren“
Madi A. und seine kleine Tochter haben es bis aus Afghanistan hierhergeschafft. Seine Frau Fatime und die beiden älteren Geschwister Umit und Milat sitzen mit am Tisch. „Wir wollen nach Deutschland, aber nicht illegal, sondern legal. Wir wollen, dass Deutschland uns aufnimmt. Wir haben es satt, illegal unterwegs zu sein als Familie. Das ist kaum auszuhalten, wirklich sehr schwierig. Der einzige Weg für uns ist, dass Deutschland uns aufnimmt. Wir wollen nicht als Flüchtlinge einreisen.“
Ob sie viel Glück hatten? „Schwierige Wege kann man nur mit Glück bewältigen. Ohne Glück hast du null Chance. Wir waren zweimal kurz davor zu erfrieren. Das geht nicht ohne Glück. Dann schaffst du es nicht“, antwortet der Familienvater.
„Ernsthafte Bedrohung für die öffentliche Ordnung“
Cuma Omurca ist Direktor der Einbürgerungsbehörde der Provinz Van. Er nennt das Problem der Türkei beim Namen. „Ich sage das sowohl als Provinzdirektor für Migrationsmanagement als auch als normaler Bürger der Republik Türkei. Bis jetzt versuchen wir, unsere Arbeit gewissenhaft und professionell zu erledigen. Hier geht es um zweierlei. Einerseits um die Zukunft unseres Landes. Die Tatsache, dass mehr als fünf Millionen Ausländer in einem Land mit 83 Millionen Einwohnern leben, ist eine ernsthafte Bedrohung für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit und die öffentliche Gesundheit.“
Mit anderen Worten: „Die Europäische Union unterstützt diese Einwanderung nur mit Geld. Aber die Türkei bezahlt vieles aus ihrem eigenen Budget. Als Provinzdirektor für Migrationsmanagement sage ich es noch einmal und auch als Bürger der türkischen Regierung: Die Unterstützung für das Migrationsmanagement der Türkei der Europäischen Union beträgt nicht einmal ein Prozent der Kosten.“
Jeder Lkw wird penibel kontrolliert
Der Grenzübergang bei Nacht. Jeder Lkw muss penible Kontrollen über sich ergehen lassen und die Hecktüren öffnen. Zu oft wurden hier Menschen geschmuggelt. Bis vor einigen Wochen waren es noch 50 bis 60 Migranten am Tag, im Moment gehen die Zahlen zurück. Einerseits wegen der zunehmenden Kälte, andererseits wurden unlängst mehrere Schlepper gefasst. Aber auch in den Gebieten abseits der Grenze ist die Jandarma mit über 140 Militärs im Einsatz. 24 Stunden pro Tag - in Acht-Stunden-Schichten - beobachten sie das Geschehen.
„Sie benutzen Leitern, um über die Mauer zu kommen“
Unser Fahrer arbeitet im Tourismusbereich und kennt die Gegend gut. Er zeigt uns, wo die Menschenhändler Flüchtlinge verstecken. Leer stehende Häuser, illegal errichtete Baracken. Hier warten sie auf die rettenden Autos, die sie ein Stückchen näher Richtung Europa bringen. Auf den verlassenen Straßen ist kaum Licht. „Wir wissen von diesen Flüchtlingen, wir sehen sie auf den Straßen, die wir täglich benutzen, und erleben, was sich hier abspielt.“
Das hier sei kein großer Ort - wohin man auch schaut, man sieht überall nur Grenzen. „Es ist unklar, woher sie genau kommen, sie können von allen Seiten kommen. Und wie kommen sie rein? Nun, sie springen über die Mauer, sie benutzen Leitern und ähnliches, um über die Mauer zu kommen. Sobald sie es geschafft haben, fallen sie unweigerlich in die Hände von Menschenhändlern. Sie bringen sie weiter. In die Nähe des Stadtzentrums oder in Scheunen oder in Wohnzimmer und Gärten. Dann versuchen sie zwei Tage lang, diese Leute in Fahrzeugen aus der Stadt zu bringen.“
Was wie Schüsse klingt, ist das gewaltsame Aufbrechen der Tür
In den nächsten Minuten findet hier ein Einsatz statt. Die Polizei hat den Tipp bekommen, dass sich im Keller dieses Hauses Menschen versteckt halten. Was wie Schüsse klingt, ist das gewaltsame Aufbrechen der Tür. Dann stürmen die Männer das Gebäude und überprüfen die anwesenden Personen auf Waffen. Der Einsatzleiter rechtfertigt das damit, dass PKK-Terrorgefahr nie ausgeschlossen werden könne. Dann werden die aufgegriffenen Personen abgeführt und ins Erstaufnahmezentrum gebracht.
Am nächsten Morgen beginnt alles von vorne. Grenzkontrollen, Aufgriffe, Aufnahmen ins Rückführungszentrum. Neue Flüchtlinge, neue Schlepper, neue Routen. Das Drama der illegalen Migration, das Europa nicht lösen kann, beginnt hier. In Van an der türkisch-iranischen Grenze.
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