„Krone“-Interview

Billy Talent: „Bei uns geht schon noch so einiges“

Musik
20.01.2022 06:00

Fast sechs Jahre haben sich die kanadischen Punk- und Alternative-Rock-Urgesteine Billy Talent mit ihrem neuen Album Zeit gelassen und ganz dem Trend entsprechend die meisten Songs schon vorab vorgestellt. „Crisis Of Faith“ ist eine Mischung aus althergebrachten Highspeed-Krachern und ungewohnten Tönen, die bis zum Saxofon reichen. Wir haben Gitarrist und Songwriter Ian D‘Sa gefragt, wie es dazu kam und was die Pandemie bei den Vorzeigerockern höchstpersönlich angerichtet hat.

(Bild: kmm)

„Krone“: Ian, seit dem letzten Album „Afraid Of Heights“ bis jetzt zu „Crisis Of Faith“ sind fast sechs Jahre vergangen. Ich habe gar nicht mehr daran geglaubt, dass es ein neues Billy-Talent-Album geben würde …
Ian D‘Sa: Wir wollten das Album schon 2020 veröffentlichen, das hätte dann nicht so schlimm ausgesehen. (lacht) In den letzten zwei Jahren hat sich absolut alles verändert und der Aufnahmeprozess zum Album war eine Start-und-Stop-Geschichte. Wir mussten uns ja auch nicht beeilen.

Die ersten musikalischen Lebenszeichen habt ihr schon im Herbst 2019 veröffentlicht. Begann die Arbeit am Album damit schon lange vor der Pandemie?
Im August 2019 haben wir die ersten Schritte unternommen und im November kam dann „Forgiveness I + II“ raus, „Reckless Paradise“ folgte früh im Jahr 2020. Im Mai 2020 hätte dann das Album kommen sollen, damit wir zu den Sommerfestivals fahren können. Dann kam Covid und wir haben die Arbeit unterbrochen, um gesund zu bleiben. Es passierte aber auch sonst sehr viel. Traurigerweise verstarb meine Mutter am 22. Mai 2019 und so habe ich mir ein paar Monate Zeit genommen, um die Zeit mit der Familie zu verbringen und ein bisschen Abstand zur Arbeit zu nehmen. Ben wurde Ende 2019 dann auch noch Vater einer Tochter. Zusätzlich dann gab es noch die Pandemie. 2020 waren wir also sehr gemütlich unterwegs. „Crisis Of Faith“ ist seit etwa einem Jahr fixfertig, aber zu entscheiden, wann man es in Zeiten wie diesen veröffentlicht, war nicht so leicht. Wir probieren es einfach jetzt, denn große Touren kann man ohnehin noch immer nicht planen.

Wenn ihr euch so viel Zeit für das Album gelassen habt, dann muss wohl schon mehr Material aufgenommen sein …
Ich hatte etwa 20 Songideen für das Album und wir haben überlegt, ob wir das Album aufteilen. Jetzt gibt es zehn Songs, also möglicherweise erscheint das nächste Billy-Talent-Album eher früher als später. (lacht)

Die Hörgewohnheiten der Musikfans hat sich seit 2016, eurem letzten Album, gewaltig verändert. Ist das der Grund, warum fast alle eure neuen Songs schon vorab irgendwie als Singles auf den Markt kamen?
Definitiv. Als wir im August 2019 ins Studio gingen, haben wir bewusst nur das halbe Album aufgenommen, weil wir jeden Song einzeln veröffentlichen wollten. Die Leute konsumieren Musik komplett anders als ich in meiner Jugend. Ich habe mir ein Album gekauft und es von vorne bis hinten durchgehört, heute geht es um einzelne Songs auf den Streaming-Plattformen. Man muss heute auf Singles setzen, sonst dringt man nicht mehr durch. Aber wir sind eine Albumband und so war es immer klar, dass wir nicht nur Singles veröffentlichen würden.

Gerade das im 2019 veröffentlichte „Forgiveness I + II“ ist das absolute Gegenteil eines Spotify-Songs. Fast sieben Minuten lang, Ausrichtung Prog-Rock und am Ende sogar ein Saxofon. Damit hätte niemand gerechnet.
Das war niemals eine offizielle Single. Wir wollten den Fans etwas geben und der Track war nie für das Radio gedacht. Es war quasi ein Häppchen bis zur nächsten Radio-Single. Wir waren immer große Fans von Prog-Rock. Zumindest ich und Bassist Jonathan Gallant. Ich bin mit Yes, Genesis und King Crimson aufgewachsen. Ich wollte mich herausfordern und habe dann an dem Song herumgespielt. Er klingt noch immer nach Billy Talent, aber die Prog-Elemente sind unüberhörbar. Das Saxofon-Solo am Ende musste einfach sein, es sollte ein bisschen wie ein Trip sein. Ursprünglich habe ich das mit einer Melodie auf der Gitarre versucht, aber das klang wie eine Hair-Metal-Band aus den 80ern. (lacht) So landete ich schlussendlich beim Saxofon. Wir haben viel herumgespielt und den Vibe gut eingefangen.

Wird es nach 29 Jahren Billy Talent immer wichtiger, sich selbst herauszufordern und sich selbst zu überraschen?
Das stimmt auf jeden Fall. Das ist auch einer der Hauptgründe, warum so ein Song überhaupt entsteht. Noch mehr, um die Fans zu überraschen. Wenn man seit 1993 zusammenspielt, dann sind es diese Momente, die die Dinge frisch halten. Die Fans müssen sich auch nicht sorgen, denn nicht das ganze Album klingt so. Es gibt noch genug klassischen Billy-Talent-Stoff zu hören.

Zwischen „Forgiveness I + II“ und dem knapp zweiminütigen Punkrocker „Judged“ liegen Galaxien. „Crisis Of Faith“ klingt einerseits wie eine Sammlung von Songs aus all euren Karrierephasen und ein bisschen so, als ob ihr bewusst Mauern einreißen wolltet.
Wir haben klanglich sicher was von jedem Album auf dem neuen Werk. Die Diversität war uns wichtig, das war auch eine bewusste Entscheidung. Was die einzelnen und unterschiedlichen Songs verbindet ist das Gefühl von Hoffnung und Resilienz. Da geht es vor allem um die Pandemiezeit. Die Leute sollen das Album hören und genau diese Gefühle verspüren. Wir sind Optimisten und hoffen, dass wir positiv und progressiv aus dieser Lage herauskommen. Wenn diese Pandemie irgendwann vorbei ist, wird hoffentlich wieder alles wie früher, aber jeder von uns geht garantiert verändert aus dieser Lage heraus. Jeder hat sein Leben reflektiert und neu kennengelernt.

Auch du selbst?
Ich bin so stark wie nie zu den Wurzeln meiner Familie zurückgekehrt. Als Mitglied von Billy Talent bist du es gewohnt, dass du nur zu Weihnachten einmal länger daheim bist, ansonsten aber immer unterwegs. Man kommt daheim nie wirklich zur Ruhe und diese Chance hatte ich jetzt. Ich habe viel Zeit mit meinem Vater und meinem Bruder verbracht und es genossen. Natürlich will ich gerne wieder auf Tour, aber es war wichtig zu sehen, dass bei meiner Familie und den engen Freunden mein wahres Leben liegt. Das habe ich definitiv erkannt.

All die alten Prog-Bands sind heute noch immer auf der Bühne und bringen auch immer wieder starke neue Alben heraus. Kannst du dir das im Billy-Talent-Style in 30 Jahren auch noch vorstellen?
Durchaus. Ich hoffe zumindest, dass wir das dann noch immer machen. Wir haben großen Spaß daran und keine Lust, in den nächsten 30 Jahren damit aufzuhören. Ich wollte mir letztes Jahr übrigens King Crimson ansehen, aber das Konzert wurde natürlich auch abgesagt.

Also ist „Fogiveness I + II“ schon ein erster Vorgeschmack darauf, wie Billy Talent dann klingen werden, wenn die physische Energie auf natürlichem Wege nachlässt?
Irgendwann müssen wir wahrscheinlich auf die Bremse steigen, aber wir spielen jetzt schon sehr lange harte und schnelle Musik und ich sehe da so schnell kein Ende. Für uns ist das einfach ganz normal. Da geht schon noch einiges. (lacht)

Der Song „I Beg To Differ (This Will Get Better)“ war klar eine direkte Pandemiehymne. Wohl der einzige Song, der so direkt darauf anspricht?
Der Song entstand textlich schon, bevor es die Pandemie überhaupt gab. Er sollte eigentlich unserem alten Klassiker „Nothing To Lose“ folgen, bekam dann aber eine ganz andere Bedeutung. Es geht um Depressionen und Selbstachtung, aber von einer positiveren Warte heraus betrachtet. Man muss Hilfe finden und sie auch annehmen und darf niemals die Hoffnung verlieren. Der Song handelt davon, dass hinter dem dunkelsten Vorhang immer ein Licht erstrahlt.

Während der Pandemie habt ihr auf euren Social-Media-Kanälen aktiv Hilfe angeboten für jene, die mentale Probleme haben oder nicht mit der Situation umgehen können. Etwas, das niemand von euch erwarten würde, aber trotzdem passierte …
Wir haben uns immer um andere und vor allem unsere Fans gekümmert. Wenn man so lange in einer Band spielt, dann ist man untereinander mehr wie Brüder als wie bloße Freunde. Man hilft sich durch alle schwierigen und weniger schwierigen Lagen und macht das Beste daraus. Wir haben in der Pandemie zudem selbst viele Unsicherheiten verspürt, das ging nicht spurlos an uns vorüber. Umso wichtiger ist es, wenn man sich gegenseitig hilft.

Du hast die Single „Reckless Paradise“ eingangs schon angesprochen. Leben wir auf diesem Planeten in einem Paradies, mit dem wir rücksichtslos umgehen?
Richtig erfasst. Das ist der Inhalt in aller Simplizität zusammengefasst. (lacht) Natürlich geht es da um unsere hochgeschätzten Landesnachbarn aus den USA. Dieses Land ist so wundervoll und wunderschön, aber wie es innerhalb von so wenigen Jahren von diesem einen Typen gespaltet und zerstört wurde, ist beispiellos und ängstigt mich. Er schert sich einen Dreck um die Klimakrise oder darum, was die Wissenschaft sagt. Das ist absolut rücksichtslos und der Song hat sich daraus gebildet. Man sollte die Dinge im Leben nie als selbstverständlich sehen. Egal wie beschissen es dir im Moment vielleicht geht, es gibt auf der Welt immer einen Platz, wo es gerade schlimmer ist. Das sollte man sich immer vor Augen halten.

Eine Zeile sagt „There’s no more heroes left to believe in“. Das ist sehr dystopisch und hat nicht viel von der Hoffnung, die du eingangs gepredigt hast …
Dieser Song ist wirklich sehr direkt ausgefallen und da fehlt vielleicht die Hoffnung. Dafür gibt es mehr Wut. (lacht) Auch die kurze Single „Judged“ entstand aus Wut und der puren, unverfälschten Emotion heraus. Es gibt heute nicht mehr so viele Bands und Musiker, die sich so klar deklarieren, aber uns vier aben diese Emotionen in den frühen 90er-Jahren zusammengeschlossen. Wir sind mit Rage Against The Machine aufgewachsen. Deren Debüt war so wütend und kraftvoll, daraus konnte man unendlich viel Inspiration schöpfen. Außerdem waren sie die ersten, die wir gecovert haben. Es muss Platz für solche Emotionen sein.

Sind Rage Against The Machine hauptverantwortlich dafür, dass ihr auch so eine politische und sozialkritische Band geworden seid?
Mit großer Sicherheit. Aber auch The Clash und andere, die sich für Dinge artikulierten. Fugazi oder Minor Threat genauso. Sie haben die Regierungen und gewählten Vertreter kritisiert, sich Gedanken gemacht. Sie haben denen, die nie eine Stimme hatten, durch die Musik eine Stimme gegeben. Genau das wollen wir weiterführen. Die Fackel weitertragen.

Hat „Crisis Of Faith“ auch etwas mit Religionskritik zu tun?
Als ich in den 80er-Jahren aufwuchs, wurde der Ausdruck oft dafür verwendet, dass die Religion an Popularität verloren hat, was sich ja bis heute durchzieht. Daran wollten wir schon etwas anknüpfen, aber „Crisis Of Faith“ hat bei uns einen politischeren Zugang. 77 Millionen Menschen haben Trump nach seiner ersten Amtsperiode wiedergewählt, das sagt die nackte Statistik. Dieses Gefühl, das ich dabei verspüre und das auch das Album trägt, ist im Titel „Crisis Of Faith“ perfekt eingebaut.

Woran glaubst du persönlich?
Ich wurde katholisch erzogen, glaube aber an keine organisierte Religion. Religionen haben viel anzubieten, aber ich selbst finde darin nichts. Ich würde mich als Agnostiker bezeichnen.

Ein großartiger Song ist der intime und doch so wuchtige Song „The Wolf“, der auch ganz anders klingt als alles, was man von euch kennt. Ist das eine Selbstbeschreibung? Seht ihr euch als einen musikalischen Wolf im Schafspelz?
Der Song dreht sich eigentlich um den 2017 verstorbenen Sänger und Aktivisten Gord Downie, der bei euch wahrscheinlich unbekannt ist, in Kanada aber zu den Allergrößten seiner Zunft gehörte. Er war Frontmann der Rockband The Tragically Hip, die hier sehr populär waren. Er hatte einen Gehirntumor und sich in seinen den Monaten vor dem Ende dazu entschlossen, nicht daheim bei seiner Familie zu bleiben, sondern eine große Kanadatour zu machen, um „Goodbye“ zu sagen. Das war eine unglaublich kraftvolle Geste einer sehr bescheidenen Person. Mit diesem Song zollen wir ihm Tribut. Der Song entstand aus der Perspektive, dass die Zeit auf diesem Planeten sehr limitiert ist und der Wolf steht für den Krebs bzw. den Tod an sich. Wir haben den Song auch orchestriert, was wir davor noch nie versucht haben.

„End Of Me“ ist eine Kooperation mit Weezer-Frontmann Rivers Cuomo. Ich nehme an, er ist ein alter Kumpel von euch?
Wir haben uns davor tatsächlich nie getroffen. Wir alle sind große Weezer-Fans und ich habe sie schon 1994 oder 1995 in Toronto gesehen, als sie das „Blue“-Album betourten. Sie haben damals die ganze Szene geprägt und waren unheimlich wichtig für die Rockmusik. Das Riff zum Intro hatte ich schon länger und das klang nach Jimi Hendrix. Ich wollte dann ein anderes, moderneres Riff darüberlegen und so entstand quasi „Hendrix + Weezer“, wie der Song als Arbeitstitel bei uns lange hieß. Ich dachte immer, Rivers wäre sicher viel zu beschäftigt, um auf die Idee des Gastgesangs einzugehen. Aber über unsere Managements haben wir Kontakt aufgenommen und er sagte ja. Einen Monat später kamen seine Gesangsspuren und dann hat sich der Song wie von selbst ergeben. Seine Stimme ist so schön, dass sie perfekt in den Song passte. Ich musste kaum noch etwas ändern. Der Sound passt auch wirklich gut zu seinem Gesangsstil.

Und hoffen wir, dass es heuer auch mit eurem Auftritt beim Nova Rock Festival klappen wird …
Beim Nova Rock spielen wir seit gefühlt 20 Jahren. Wir waren immer da und es war immer extrem genial. Wir haben in Wien oft freie Tage und ich bin unheimlich gerne dort. Ich schaue mir immer Ausstellungen von Klimt oder Schiele an. Es wird längst Zeit, dass wir wieder nach Europa kommen, um zu spielen. Diesen Sommer muss es einfach klappen.

Live am Nova Rock
Unter www.novarock.at gibt es Karten und alle weiteren Infos zu Billy Talent und dem gesamten Line-up. Das größte Rockfestival Österreichs geht von 9. bis 12. Juni auf den Pannonia Fields im burgenländischen Nickelsdorf über die Bühne. Neben Billy Talent sind u.a. auch Muse, die Foo Fighters, Volbeat und Seiler und Speer eingeplant.

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