„Krone“-Interview

Krieg gegen Brudervolk: Was treibt Putin an?

Ausland
25.02.2022 23:46

Schockwellen erschüttern den ganzen Kontinent: Krieg des größten Landes Europas gegen das zweitgrößte Land Europas, von dem Putin behauptet, es sei das Brudervolk. Die „Krone“ sprach mit dem österreichischen Spitzendiplomaten Martin Sajdik über die Beweggründe und Ziele Wladimir Putins und darüber, warum der Kremlchef gerade jetzt losgeschlagen hat.

Einer, der seit Moskauer Studententagen in Russland und der Ukraine tätig ist und die dortige Welt kennt wie kaum jemand sonst, ist Spitzendiplomat und Botschafter Martin Sajdik. In den letzten Jahren war er auch OSZE-Sondergesandter in der Ukraine.

„Krone“: Herr Botschafter Sajdik, wie konnte es so weit kommen? Was hat zu diesem Hass des russischen Präsidenten gegen die Führung in Kiew geführt, zu dieser Entfremdung mit dem Westen?
Martin Sajdik: Die Beweggründe und das Verhalten des russischen Präsidenten sind voller Rätsel. Die Entfremdung reicht weit zurück. Putin war zu Beginn seiner Amtszeit durchaus Europa-offen, allerdings aus seiner Sicht. Die ersten Knackpunkte traten schon in der Tschetschenienkrise, den beiden Kriegen, auf. Er sah sich nicht verstanden, insbesondere im Kontext des Faktors des Fundamentalismus. Auch die Art und Weise, wie ihm Mores gepredigt wurden, kam bei ihm nicht gut an. Putin vermutete, dass es dem Westen nach Auflösung der Sowjetunion auch um die Auflösung Russlands ging. Nächste Stufe war der „Majdan“ in Kiew 2014, den er dem Westen anlastet. Das war für ihn eine ungeheure Erniedrigung. Der „Majdan“ war kein Putsch, sondern der ungeschickte Präsident Wiktor Janukowitsch ist letztlich ins russische Exil davongelaufen. Er hatte den Fehler gemacht, dass sich die Ukraine in ihrer Position beide Orientierungen hätte offenlassen müssen. Aber zuerst ein Ja zur EU und dann über Nacht ein Nein und die Kehrtwendung Richtung Russland - da ging das Volk nicht mehr mit. Wie man es richtig macht, zeigt Armenien. Es hat einen Vertrag mit der EU ausgehandelt und ist zugleich Mitglied der Eurasischen Union; also Und-und und nicht Entweder-oder.

Martin Sajdik kennt Russland und die Ukraine als langjähriger Botschafter bzw. OSZE-Sondergesandter sehr gut. (Bild: APA/AFP/Sergei Gapon)
Martin Sajdik kennt Russland und die Ukraine als langjähriger Botschafter bzw. OSZE-Sondergesandter sehr gut.

Eine Rolle spielte auch, dass Putin mit Selenskyj nicht kann. Er hat ihn nie voll genommen, er hat ihn nie erwischen können. Selenskyj hat sich sehr geschickt entzogen. Die beiden konnten nie ein persönliches Verhältnis herstellen. Das war sehr schade. Dabei war Selenskyj bei den Russen sehr populär gewesen. Alle haben viel gelacht, wenn er als TV-Komiker den Präsidenten spielte - und darüber, wie er die Verhältnisse in der Ukraine karikierte. Und ausgerechnet diese Person muss man jetzt ernst nehmen? Über diese Schwelle ist Putin nicht gekommen, denn im Gegensatz zu seiner eigenen Herrschaft ist Selenskyj in einem demokratischen System in freier Wahl und mit großer Mehrheit gewählt worden.

Bei Putin kochte offenbar seit Langem Wut im Bauch. Warum startete er gerade jetzt diese brachiale Generalabrechnung? Irgendetwas muss das Fass zum Überlaufen gebracht haben.
Vielleicht war der jüngste Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien ein Faktor. Die türkischen Kampfdrohnen Aserbaidschans haben die Gegner in Grund und Boden geschossen. Diese Kampfdrohnen hat aber auch die Ukraine angeschafft, und eine davon soll kürzlich auf Separatistengebiet einen Stützpunkt zerstört haben. Jedenfalls haben Kampfdrohnen die militärische Lage vor Ort neu gewichtet - zu Ungunsten der Separatisten. Und dann hatte sich Selenskyj noch dazu erdreistet, den persönlichen Freund Putins, Viktor Medwedtschuk - Putin ist Taufpate eines seiner Kinder - unter Hausarrest zu stellen. Medwedtschuk ist einer der Oppositionsführer und Putins Mann in der Ukraine.

Wolodymyr Selenskyj schwört auf die Verfassung des Landes, ein Präsident aller Ukrainer zu sein. (Bild: AP)
Wolodymyr Selenskyj schwört auf die Verfassung des Landes, ein Präsident aller Ukrainer zu sein.

Präsident Putin spricht aber der Ukraine überhaupt das Existenzrecht ab.
Wenn man gehört hat, was er gesagt hat und wie er es gesagt hat, muss man zu diesem Schluss kommen. Aber das Argument, die Ukraine sei ein Konstrukt der Sowjetunion, trifft dann ja auch auf ein Dutzend anderer Republiken zu. Geht es dann so weiter in diese Richtung? Und das erst dreißig Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion!

Putin bestätigt mit seinem Krieg einen alten russischen Spruch: Ohne die Ukraine ist Russland kein Imperium. Sind diese Phantomschmerzen über die Verstümmelung des „historischen Russlands“ also ein Phänomen des Alters?
Es ist zumindest eine Generationenfrage. Russland und Belarus werden von Leuten regiert, die noch von der Sowjetgesellschaft geprägt sind und die die ganze Grausamkeit der Sowjetgesellschaft in sich aufgenommen haben und mit dieser Grausamkeit aufgewachsen sind.

Die beiden Präsidenten Putin und Lukaschenko sind noch im alten Denken verhaftet geblieben. (Bild: ASSOCIATED PRESS)
Die beiden Präsidenten Putin und Lukaschenko sind noch im alten Denken verhaftet geblieben.

Wie denkt die neue Generation? Europäisch?
Sie denkt global. Sie ist eine globalisierte Generation, die auch wirklich global agieren kann. Russen machen sogar im Silicon Valley Karriere. Russen fällt das leicht, weil sie - gut ausgebildet - aus einem Großreich kommen und gelernt haben, in großen Dimensionen zu denken.

Aber jene Generation, die an den Hebeln sitzt, ist diesem Weltbild offenbar nicht gewachsen?
Die denkt noch immer in den Dimensionen des 19. Jahrhunderts: dem „Konzert der Mächte“. Das hat sich aber in Europa durch die beiden Weltkriege völlig geändert. Das zeigt Europa mit seiner Geschlossenheit, wie ich sie mir kaum hätte vorstellen können. Putin aber wählte den Weg in die Selbstisolation Russlands.

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