Schnell, verlustreich
Wo es für die Russen gut läuft – und wo nicht
Der beste Plan übersteht meistens nicht die ersten Minuten eines Gefechts. So rasant der Vorstoß der russischen Streitkräfte in die Ukraine auch war: Vielerorts scheiterten die scheinbar überlegenen Invasoren am Widerstand der Ukrainer. Doch wie stark stockt der russische Vormarsch wirklich? Eine Zwischenanalyse von Oberst Markus Reisner von der Militärakademie.
Der Samstag begann mit schlechten Nachrichten für die russischen Streitkräfte. Zwei Frachtflugzeuge des Typs IL-76 dürften beim Versuch, südlich von Kiew Nachschub zu liefern, von der Ukraine abgeschossen worden sein. Ein Anlandeversuch nördlich der Stadt scheiterte zuvor ebenfalls, nachdem die ukrainische Luftabwehr stärker als erwartet Widerstand geleistet hatte.
1. Kiew hält sich wacker
Insgesamt dürften die Verluste auf russischer Seite höher sein, als erwartet. „Die Absicht, gleich zu Beginn in Kiew einen strategischen Effekt zu erzielen, ist gescheitert“, erklärt Reisner im täglichen „Krone“-Briefing Samstagfrüh. Kiew war in den Morgenstunden noch vergleichsweise fest in ukrainischer Hand, ein von Putin angeregter „Putschversuch“ (siehe Video oben) war nicht auszumachen. „Doch für die Ukraine geht es jetzt um alles.“
2. Geschwindigkeit von 1 bis 2 km/h
Denn obwohl sich die russische Armee in Kiew schwerer tut als erwartet, hat sie anderenorts gewaltige Gebietsgewinne erzielt. In nur 60 Stunden sind die Angreifer entlang vier verschiedener Achsen zwischen 60 und 140 Kilometer weit ins Land vorgerückt - also im Schnitt mit 1 bis 2 km/h. Das ist Lichtgeschwindigkeit für einen breit angelegten Vormarsch in ein Kriegsgebiet.
3. Dilemma für russische Armeeführung
Doch die russischen Kommandanten stehen vor einem Problem: Sie müssen zum einen moderat vorgehen, um die Zivilbevölkerung zu schützen - laut Putins Philosophie sind Ukrainer „Brudervolk“. Zum anderen steigen die eigenen Verluste, wenn sich die Armee zu sehr zurückhält und den Ukrainern Gelegenheit zum Angriff gibt.
4. Verteidiger von Kiew im Aufwind
„Je länger der ukrainische Widerstand vor allem in Kiew anhält, umso erbitterter wird er. Mit der Dauer steigt auch die internationale Solidarität mit den Verteidigern und deren Willen, leider aber auch wahrscheinlich die Zahl der Opfer unter den Zivilisten“, so Reisner. Freitagnacht etwa schlugen zahlreiche Raketen in einen Wohnblock in Kiew ein.
5. „Dann kann es ganz schnell gehen“
Experten werten die aktuelle Phase des Krieges als „Angriff zum Durchbruch“, also ein Anlaufen gegen einen vorbereiteten Feind, der für die Verluste auf russischer Seite sorgt. Diese Phase geht - trotz des rasanten Vormarsches der Russen - vergleichsweise langsam voran. „Wenn sie da durch sind“, so Reisner, „dann geht der Vormarsch durch die Gebiete noch schneller.“
Fazit: „Bilderbuchinvasion“ verlor an Kraft
Auch US-Analysten sahen in den ersten 24 Stunden des russischen Angriffes eine Invasion nach Lehrbuch: Raketenschläge gegen Luftabwehr, Kommunikationseinrichtungen und andere Militärziele, um die politische und militärische Führung rasch zu lähmen. Doch danach ging das Momentum verloren, schreibt etwas die „New York Times“. „Es ist eine Sache, die Grenze eines Landes zu überschreiten und mit Panzern und Artillerie rasch große Gebiete zu erobern“, zitiert das Blatt einen Pentagon-Offizier. „Doch ganze Städte zu belagern und zu besetzten, die voll mit Menschen sind, die sich wehren wollen, ist eine ganz andere Angelegenheit.“
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