Zwei riskante Optionen

Russen stehen vor Kiew – und vor einem Dilemma

Ausland
04.03.2022 08:30

Es ist die Ruhe vor dem Sturm: Tausende russische Truppen stehen im Norden der ukrainischen Millionenstadt Kiew und warten auf den Angriffsbefehl. Die Verteidiger der Stadt haben sich verschanzt, Molotowcocktails befüllt, an hastig ausgegebenen Sturmgewehren geübt. Russland muss sich nun für eine von zwei Angriffsoptionen entscheiden.

Die russischen Kommandeure stehen nördlich von Kiew vor einer schweren Entscheidung: Soll die ganze Stadt in einem monatelangen, zähen Häuserkampf erobert und besetzt werden? Oder reicht ein schneller Vorstoß ins Regierungsviertel, um dort symbolträchtig den Sieg zu verkünden und eventuell Präsident Wolodymyr Selenskyi zu verhaften?

Beide Optionen haben gewaltige Nachteile
„Solch ein schneller Vorstoß“, erklärt Major Klaus Kuss am Mittwoch im Gespräch mit der „Krone“, „wäre ausgesprochen riskant. Die Flanken sind dabei offen, Beschuss kann von jeder Seite kommen.“ Mehr noch: Die Angreifer könnten, einmal im Zentrum angelangt, abgeschnitten und umzingelt werden. Doch auch die zweite Option ist problematisch.

„Eine Millionenstadt wie Kiew Straße für Straße zu erobern und zu halten ist extrem zeit- und kräfteraubend“, so Kuss. Denn Kampf im urbanen Umfeld, so der Kommandant der Lehrgruppe Sonderausbildung, wird vom Angreifer normalerweise aus mehreren Gründen vermieden. 

Major Klaus Kuss, Kommandant der Lehrgruppe Sonderausbildung an der Heerestruppenschule (Bild: HBF/Daniel TRIPPOLT)
Major Klaus Kuss, Kommandant der Lehrgruppe Sonderausbildung an der Heerestruppenschule

Geringe Distanzen zerstören Technologievorsprung
In Ortsgebieten spielt es keine Rolle mehr, wer das modernere Sturmgewehr hat. Das Gefechtsfeld ist unübersichtlich und zermürbend, Zivilisten bewohnen oft noch die Stadt, unter den Straßen liegen Gasleitungen. „Die Distanzen sind extrem gering, sehr viel Feuer konzentriert sich auf sehr wenig Raum“, so Kuss.

Dafür ist die Waffenwirkung größer: Beton, Ziegel, Glas splittert sofort bei einem Treffer und verletzt die Menschen in der Nähe. Der Technologievorsprung verpufft in engen Häuserschluchten.

„Angreifer in urbanes Gebiet saugen“
Für die Verteidiger bedeutet das: Mit kleinen Trupps können sie jederzeit zuschlagen und den Angreifer blitzartig in eine Verteidigungsrolle zwingen. „Deswegen versuchen unterlegene Kräfte oft, Angreifer bewusst in urbanes Gebiet zu saugen“, erklärt Kuss. Während Kommandanten bei klassischen Angriffen meist mit einer vierfachen Übermacht rechnen, um den Gegner zu überwältigen, rechnen sie im Ortsgebiet mit der acht- bis zehnfachen Übermacht, die dafür notwendig ist.

Und den entsprechenden Verlusten. 

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