Zahlreiche Rückschläge
Russische Militärmacht „nicht sonderlich gewaltig“
20 Jahre lang hat Russland versucht, der Welt ein modernes, schlagkräftiges Bild seiner Streitkräfte zu vermitteln. Nur zwei Wochen nach Kriegsbeginn ist davon nichts mehr übrig.
Am Tag 14 nach der russischen Invasion tritt der estnische Verteidigungschef Martin Herem vor die Presse. „Was ich derzeit von der gewaltigen russischen Militärmacht sehe, ist nicht sonderlich gewaltig“, sagt er, und drückt damit offen aus, was auch Experten aus dem US-Pentagon inoffiziell durchsickern lassen: Die russischen Streitkräfte liefern nach zwei Wochen konventionellen Angriffskrieges ein ernüchterndes Bild ab.
- Da wäre die gescheiterte Anlandung im Norden Kiews in den ersten Tagen des Konfliktes, die von den Ukrainern mit einfachen Boden-Luft-Raketen zurückgeworfen wurde.
- Oder die kilometerlangen, stecken gebliebenen Nachschubkonvois, die mit ihrer inadäquaten Bereifung im ukrainischen Matsch versinken.
- Auch die hohen Verluste erschüttern - nach konservativen Schätzungen sind 3000 russische Soldaten tot (ukrainische Vertreter sprechen von mehr als 12.000) - jedenfalls mehr, als Amerika in 20 Jahren Afghanistan-Konflikt verloren hat.
Nichts davon passt zu Putins Bild von alter Größe. Doch wie konnte es so weit kommen?
Alles auf eine Karte gesetzt
Bei der Ursachenforschung hilft Oberst Markus Reisner - seit Tag eins fast täglich als Experte des Bundesheeres im Einsatz - mit Spezialgebiet „moderne Kriegsführung“: Die Russen hätten zu Kriegsbeginn alles auf eine Karte gesetzt, sagt er im „Krone“-Gespräch, sie hätten „auf einen schnellen Enthauptungsschlag innerhalb von drei Tagen gehofft, ähnlich wie in Prag 1968“.
Als daraus nichts wurde, fanden sich die Invasoren in einer unangenehmen Lage. Die Angriffsspitzen waren zu weit vorgestoßen, die Versorgungswege plötzlich hunderte Kilometer lang. Drei Tage lang kann man so Krieg führen, danach steht alles. Sprit, Munition und Lebensmittel sind dann aufgebraucht. Probleme mit der gesicherten Kommunikation erschwerten die Situation für die - traditionell zentralistisch geführten - Russen weiter. Wichtige Entscheidungen zum Improvisieren kamen offenbar nicht oder erst zu spät bei den Unteroffizieren an.
Und dann waren da noch die Verteidiger.
Ukrainer wurden „gut beraten“
„Ich denke, die Ukrainer waren gut darauf vorbereitet“, sagt Reisner und meint damit den perfekt ausgeführten Jagdkampf der Verteidiger auf die bitter nötigen Versorgungslinien der Russen. „Das ist zu gut koordiniert, um spontan zu sein. Sie sind im Vorfeld wohl sehr gut beraten worden“, sagt der Oberst.
Was davon ist nun russische Blamage, was ist westliches Wunschdenken? Die Fehler der Russen, die Verluste ihrer Streitkräfte sind atemberaubend. Doch „im Krieg zählt die Masse“, zitiert die „New York Times“ einen US-General. Und diese Masse hat Russland.
„Sie sind leidensfähig und bereit, bis zum Äußersten zu gehen“, sagt Reisner. „Wir werden noch viele Überraschungen erleben.“
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