AC/DC-Klänge und ohrenbetäubendes Schlagzeug-Getrommel schallen durch das Haus von Familie Natter in Lauterach. Seinen Ursprung hat der „Krach“ im Keller, in dem der 17-jährige Matthias sein eigenes Reich hat.
Gitarren und ein Poster zieren eine Raumwand. Hinter dem Schlagzeug sitzt Matthias. Er ist voll auf den Rhythmus, die Musik konzentriert - und ist glücklich.
Die Begeisterung für Hard Rock und Heavy Metal hält sich bei Mama Martina und Papa Peter in Grenzen. Doch wenn sich ihr „Kellerkind“ stundenlang dort unten beschäftigt, bedeutet das, dass es ihm gut geht. Matthias lebt dann in seiner eigenen Welt. Eine Welt, die für Außenstehende oft fremd ist und von Martina und Peter Natter erst nach und nach erschlossen wurde.
Die Erschließung jener neuen Welt begann für die beiden mit der Geburt ihres ältesten Sohnes vor inzwischen gut 17 Jahren. „Nach der Geburt äußerte der Oberarzt mir gegenüber den Verdacht, dass unser Kind Trisomie 21 hat. Ich dachte zunächst, dass dies sicher irgendein Albtraum gewesen ist und ich gleich aufwache“, erzählt Martina Natter. Als ihr Mann wieder ins Spital kam, erzählte sie ihm vom bösen Traum.
„Mir war sofort klar, dass sie nicht geträumt hatte. Ich hatte nach der Geburt gesehen, dass die Lücke nach dem großen Zeh ungewöhnlich groß war. Ich wusste damals zwar nicht, dass dies ein Merkmal von Downies ist, habe aber irgendwie eins und eins zusammengezählt“, erinnert sich Peter Natter. Eine Chromosomenanalyse brachte dann Gewissheit. Für die kleine Familie begann eine Zeit mit vielen Herausforderungen.Herz-OP notwendig„Das größte Problem war zunächst, dass Matthias mit einem schweren Herzfehler auf die Welt gekommen war. Im Alter von sechs Monaten - noch bevor die Lunge Schaden nahm - wurde er in Innsbruck operiert“, berichtet seine Mutter. Sein Vater weiß von anderen Hürden zu berichten. Etwa davon, dass es nahezu unmöglich war, eine Unfallversicherung für alle Familienmitglieder abzuschließen. „Unseren behinderten Sohn wollte niemand versichern.“
Hilfesuchend wandte sich Martina Natter an den Downsyndrom-Verein. Schnell wurde sie dort eingebunden und hat vor kurzem sogar den Obfrau-Posten übernommen. „Damals hatte ich nicht viel für Selbsthilfegruppen übrig. Allerdings stellen sich den betroffenen Eltern nicht nur ganz so banale Frage wie die nach einer guten Regenhose. Es geht um Spracherwerb, Lernmethoden oder Betreuungsplätze.“ Je nach Kommune ist es gar nicht so einfach, einen geeigneten Betreuungsplatz zu finden. Gerade in Hinblick auf ein zusätzliches Kindergartenjahr stellt sich der eine oder andere Bürgermeister oftmals quer. Matthias Natter hatte damals Glück. Nach einem Besuch auf der Gemeinde war klar: Der Vierjährige durfte zusammen mit seinem jüngeren Bruder Sebastian die Spielgruppe besuchen.
Auch im Kindergarten, der Volks- und Mittelschule war der Bub später willkommen. „Die Eltern fanden es gut, dass ihre Kinder mit unserem in einer Klasse waren. Sagen muss man jedoch, dass die Schere hinsichtlich der Entwicklung zwischen Matthias und den Mitschülern immer weiter aufgegangen ist. Gelernt hat er später vielleicht auch nicht mehr so viel“, gibt Martina Natter zu. Aber Dank einer Lehrerin, die kurz vor der Pensionierung mit Matthias und drei weiteren Integrationsschülern auf die Mittelschule gewechselt hat, war es möglich, dass der Lauteracher immer mit an Bord war - Wien-Woche inklusive.
Extreme Unterschiede
Peter Natter betont die extremen Unterschiede bei den „Downies“: „Das mit Inklusion und Integration funktioniert nicht immer. Es gibt nicht den einen richtigen Weg und es müssen alle mitspielen. Aber wenn der Klassenverband passt, profitieren auch die anderen Kinder - sowohl hinsichtlich ihres Sozialverhaltens als auch vom höheren Betreuungsschlüssel, der letztlich allen Schülern in der Klassen zu Gute kommt.“
Derzeit besucht Matthias die Polytechnische Schule in Lauterach. „Ein Glücksfall für uns war, dass die dortige Direktorin schon als junge Lehrerin ein Kind mit Downsyndrom betreut hatte. Sie hat sofort zugesagt, dass unser Sohn diese Schule besuchen kann. Er liebt es dort zu sein. Und nachdem er während einer Schnupperzeit bei Jupident ganz unglücklich gewesen ist, durfte er noch ein zweites Jahr anhängen. Aus diesem ist - pandemiebedingt - nun sogar ein drittes geworden“, erzählt die Mutter.
Unterm Strich sei Matthias ein glücklicher Bub. Natürlich hätte er gerne ein Moped wie sein Bruder Sebastian oder eine Clique, mit der er fortgehen kann. „Aber er hat sein Schlagzeug, weiß alles, was ihn interessiert und den Rest recherchiert er im Internet. Das für hat er ja schließlich lesen gelernt.“
Mit der ernüchternden Diagnose vor gut 17 Jahren hat die Mutter längst ihren Frieden gemacht. „Das Leben mit Downsyndrom ist kein Weltuntergang.“ Die Familie, der neben Sebastian auch der zehnjährige Maximilian angehört, hätte in den vergangenen Jahren viele schöne Erlebnisse gehabt. „Eben weil wir Matthias haben. Er hat das Downsyndrom, aber die anderen Kinder sind auch nicht von der Stange“, meint sie und zwinkert ihrem 16-Jährigen zu.EinschränkungenNatürlich fühlt sich die Familie bisweilen auch eingeschränkt. „Das größte Problem ist, dass wir den Matthias nicht längere Zeit alleine lassen können“, sagt Peter Natter. „Der Sebastian schmeißt vielleicht eine Party, aber der Matthias geht vor die Tür, hat dann keinen Schlüssel und steht alleine in der Kälte. Mit Stresssituationen tut er sich schwer. Da macht es klick und er weiß gar nichts mehr.“
Nachdem Matthias einmal in den falschen Bus eingestiegen und längere Zeit unterwegs war, haben ihm seine Eltern ein Smartphone gekauft, um ihn gegebenenfalls orten zu können. Ganz problemlos ist die Nutzung aber bisher nicht abgelaufen, denn Matthias hat ein Faible für Blaulichtorganisationen und kennt alle Nummern auswendig.
Besuch zu später Stunde
„Während des ersten Lockdowns waren die Männer schon alle im Bett. Ich saß noch vor dem TV, als es an der Tür geläutet hat“, erzählt Martina Natter. Blaues Licht, drei Polizeibeamte. Sechs Notrufe waren aus dem Haus abgesetzt worden. „Da hab ich schon gewusst, was los ist und bin sofort in das Zimmer vom Matthias gegangen. Er hat natürlich so getan, als ob er schläft, aber ich habe ihn, blass wie er war, im Pyjama zu den Polizisten geschickt…“
Auch wenn ihr in solchen Momenten nicht zum Lachen sei, am Ende würde die ganze Familie solche Vorfälle dann doch mit Humor nehmen.
Die jüngeren Geschwister sieht Mama Martina keinesfalls benachteiligt. Im Gegenteil: „Der Sebastian hat oft profitiert. Beim Einkaufen hat er immer seinen Bruder vorgeschoben, der nicht nur ein Wurscht-Rädle bekam, sondern für alle gut abgesahnt hat“, verrät sie. Und auch bei den Vereinsausflügen zur Feuerwehr, den Huskys, ins Ravensburger Spieleland oder den Zoo seien die zwei Jüngeren stets mit von der Partie gewesen.
Und was das Thema Integration angeht, könnten viele Erwachsene etwas von Sebastian lernen. „Es gibt so viele Menschen, die keine Ahnungen haben, wie sie mit Behinderten umgehen sollen“, weiß er. „Ich würde sagen - wie mit einem ganz normalen Menschen. Eventuell muss man sich anpassen. Wenn ich mit meinem Bruder rede, vereinfache ich die Sätze ein wenig und wähle Themen, denen er folgen kann.“
Mit Fußball, Schwimmen dürfte er da ganz gut liegen. Beiden Sportarten frönt Matthias regelmäßig in Bludenz und Dornbirn. Gerade beim Schwimmen hat er schon zahlreiche Medaillen und Pokale errungen. Und nicht zuletzt funktioniert das Thema Musik. „Hier liebe ich Hardrock“, sagt Matthias. Was er nicht mag, will er nicht verraten. „Meine Lieblingsbands sind Lordi und Maneskin“, verrät er noch, bevor er wieder im Keller verschwindet. Wenig später setzt der Schlagzeug-Beat wieder ein.
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