Wie kein Zweiter steht der Brite Jamie Cullum für Crossover zwischen Hoch- und Popkultur, zwischen Jazz und leichteren Klängen. Seine Livetermine im Konzerthaus musste er pandemiebedingt zweimal verschieben, dieser Tage ist es aber endlich soweit. Teil seiner mehrtägigen Wiener Stippvisite sind auch seine Eltern, mit denen er die Stadt genießt, bevor er heute Abend noch einmal auf die Bühne geht. Im „Krone“-Interview sprach er über sein Familienglück, warum die Pandemie kreative Geister freisetzte und wie er sich mit seiner eigenen musikalischen Vergangenheit ausgesöhnt hat.
„Krone“: Jamie, du musstest deine geplanten Auftritte im Wiener Konzerthaus pandemiebedingt zweimal verschieben. Man glaubt es kaum, dass du jetzt doch live auf der Bühne stehst…
Jamie Cullum: Ich habe das ja selbst kaum noch geglaubt. (lacht) Es gab Phasen, da habe ich einfach darauf gehofft, dass es überhaupt wieder Konzerte geben wird. Es ist schon lustig, dass wir für manche Konzerte den Kartenverkauf 2019 eröffnet haben und die Show dazu dann erst drei Jahre später stattfindet. Geschmäcker ändern sich ja auch und ich bin sehr dankbar, dass die Leute mir über diese Zeit die Stange gehalten haben.
Du wolltest ursprünglich auch dein Album „Taller“ vorstellen, das jetzt aber auch schon drei Jahre auf dem Buckel hat. In der Zwischenzeit hast du sicher schon viele neue Songs geschrieben…
Ich war nie derjenige, der nur mit einem neuen Album auf Tour war. Ich habe auch abseits davon Konzerte gegeben und meine Auftritte bestehen immer aus neuem Material und älteren, bekannten Hits. Ich habe schon einiges geschrieben, die Kreativität kann ich einfach nicht stoppen. Es ist ein bisschen wie bei Muskeln am Körper, die man automatisch trainiert, indem man sich einfach nur bewegt. Ich könnte gar kein Jahr Schreibpause einlegen. Ich hätte zu viel Angst, dann nicht wieder zurückzufinden.
Viele Künstler taten sich ob der Isolation und Langeweile schwer, während der Lockdowns kreativ zu sein. War das bei dir nicht der Fall?
Mein Fokus lag auf meinen zwei jungen Töchtern. Ich war lange Zeit gut mit Homeschooling beschäftigt, es war für mich aber nicht schwierig kreativ zu sein. Es ist nicht so, dass ich immer gute Ideen habe, aber ich nehme mir die Zeit, mich leiten zu lassen. Songs zu schreiben, zu fotografieren oder zu malen. Ich bin sehr froh, dass mein Kopf mich immer in diese kreativen Situationen führt. So furchtbar die Lockdowns auch waren, sie gaben mir sehr viel Freiheit für kreative Schübe. Ich glaube, dass die Künstler ohne Ideen sich selbst viel zu viel Druck auferlegt haben. Wenn ich jetzt 20 Jahre jung wäre und gerade einen Plattenvertrag unterschrieben hätte, wäre das bei mir nicht anders gewesen. Jetzt in meinen 40ern habe ich aber die nötige Ruhe gefunden. In erster Linie muss meine Familie gesund sein und dann habe ich mich darauf konzentriert, den Haushalt in Ordnung zu halten. Das Kreative entstand aus einer Art Meditation. Ich habe einfach darauf gewartet, was passiert.
Du hast daheim dann also auch die Funktion des Lehrers übernommen? Auch keine uninteressante Rolle...
Da mussten weltweit doch alle Eltern durch, aber mir hat es großen Spaß gemacht. Für Eltern war die Pandemie auch ein Geschenk, denn sie hatten sehr viel Zeit für ihre Kinder. Wir haben ein Haus mit einem großen Garten, das erleichterte das Leben während der Pandemie. Natürlich ging es nicht allen so und das tut mir wirklich sehr leid. Vor allem für jene, die in den härtesten Zeiten durcharbeiten mussten. Ihnen gebührt mein allergrößter Respekt.
Zwei Jahre daheim zu sein, die Kinder aufwachsen zu sehen und im Garten zu arbeiten kann einen verändern. Immerhin bist du sonst den Großteil des Jahres im Flugzeug, im Bus oder irgendwo in einem Backstagebereich.
Das ist eigentlich eine Illusion, dass ich so viel unterwegs wäre. Ich bin auch außerhalb der Pandemie die meiste Zeit daheim und spiele meist vereinzelt Konzerte. Wenn es ein neues Album zu promoten gibt und man zu vielen Terminen gezerrt wird, kann das anstrengend sein, aber das passiert nur alle paar Jahre. Ich blicke gerne voraus in die Zukunft und bin überzeugt davon, dass das Beste noch kommt, aber in der Pandemie ging ich die Sache auch mal andersrum ran. Ich war in meinem Studio und stolperte dort über alte Verträge, Poster, Demo-Tapes - eine ganze Truhe an Erinnerungen. Natürlich musste ich dabei zurückdenken und dachte mir: „Wow, was für eine wilde Reise, auf der du seit mehr als 20 Jahren bist!“ Ich habe das erste Mal seit einer halben Ewigkeit wieder Klavierstunden genommen und dabei mit einem Professor über Zoom gearbeitet, eine tolle Erfahrung. Das war für mich die größte Veränderung zu früher. Ich bin total den Übungsstunden verfallen und habe das Instrument wieder neu für mich entdeckt.
So eine nostalgische Reise in die eigene Vergangenheit kann auch schnell zur Verklärung führen.
Es war gar nicht so leicht, mir meine alten Tapes anzuhören. Meine Stimme klingt heute ganz anders als früher und diese Musik wurde wie von einer anderen Person gemacht. Ich muss mir immer vergegenwärtigen, dass sich die Menschen mit einem bestimmten Album in die Musik ihres Künstlers verlieben. Wenn ich jetzt die Beatles zum Vergleich heranziehe: auch wenn „Sgt. Peppers…“ vielleicht das beste Album sein mag, wenn dein erstes „Revolver“ war, dann wird „Revolver“ immer dein Favorit sein. So ist es auch bei meinen Werken und dafür muss man dem Publikum gegenüber Respekt haben. Auch wenn mir die alten Alben aus heutiger Sicht vielleicht etwas komisch vorkommen.
Fällt es dir schwer, dich heute noch mit deinen alten Songs zu identifizieren?
Eher mit den Texten der Songs und nicht mit dem Song selbst. Wenn ich mir heute durchlese, was ich mit 22 so geschrieben habe, dann passt das natürlich zur damaligen Zeit und Verfassung, aber ich blicke skeptisch darauf. Das ist natürlich okay, aber so geht es dir vielleicht auch mit Texten, die du als junger Journalist geschrieben hast. Mir ist es sehr viele Jahre schwergefallen, Songs meines Erfolgsalbums „Twentysomething“ zu spielen, aber irgendwann war es auch wieder okay. Man muss die Dinge mit Humor nehmen und darf sich selbst nicht zu hart beurteilen. Über sich selbst lachen zu können ist in der Kultur noch viel wichtiger als in anderen Jobs. Sehr viele extrem berühmte Menschen verlieren diese Fähigkeit und drehen deshalb oft durch. (lacht) Wenn man sich für Musik interessiert, dann bleibt man automatisch bescheiden. Man hört und sieht, wie gut so manch anderer ist und will dadurch selbst immer besser werden. So bleibt man demütig.
Fühlst du heute überhaupt noch Druck, nach all den Erfolgen, Konzerten und Awards, die du eingeheimst hast?
Jeden Tag verspüre ich den Druck, aber das ist ein Teil des Spiels, denn immerhin leben ich und meine Familie davon. Ich versuche mich nach einer Veröffentlichung so gut wie möglich von meinen Alben und Liedern zu lösen, denn die Meinung der Menschen da draußen kannst du sowieso nicht beeinflussen. Es stimmt einfach nicht, dass es einem egal ist. Natürlich will man, dass den Menschen deine Musik gefällt. Alles andere wäre sonderbar, aber man muss sich in erster Linie darauf konzentrieren, dass man das macht, was für einen gut ist.
Ist ein Job wie deiner heute wichtiger denn je, weil du den Menschen in einer von Krisen durchzogenen Welt für einige Stunden einen Raum für ungefilterte Freude und Genuss gibst?
Puh, ich weiß nicht, ob man das so sagen kann. Ist es wirklich wichtig, was ich mache? Ich liebe meinen Job und ich weiß, dass die Musik eine Sprache für Gemeinschaft und Universalität ist. Kultur kann das Leben verschönern. Ich liebe es, einen guten Film zu sehen, ein spannendes Buch zu lesen, ein schönes Bild zu beobachten oder einen Song zu singen. All diese Dinge holen mich aus der Realität, aber ich kann nicht beurteilen, ob ich Menschen so eine Freude machen kann. Es wäre vermessen, das zu bestätigen.
Du bist ja auch sehr interessiert an Literatur und Fantasy-Themen. Inspiriert dich das mehr oder weniger bewusst auch zu deinen Songs?
Ich liebe es zu lesen und das Lesen führt mich sicherlich zu Ideen oder zu Strukturen, die dann eventuell in Songs landen. Ich habe als Kind und junger Erwachsener extrem viele Fantasyromane gelesen und die habe ich in meiner nostalgischen Phase zuhause wieder ausgegraben. Sehr inspirierend fand ich die „His Dark Materials“-Trilogie von Philip Pullman. Ich bin früher nie so sehr in die J.J.-Tolkien-Welt gefallen, aber britische Fantasyschriftsteller wie Susan Cooper oder Alan Garner haben mich fasziniert. Wenn man älter wird, sieht man ihre Werke aus einer anderen Perspektive. Es steckt so viel Carl Jung oder Sigmund Freud in ihren Büchern. Du denkst vielleicht, dass du gerade etwas über haarige Goblins liest, aber eigentlich geht es um den Zustand des menschlichen Geistes. (lacht) Das ist natürlich auch bei „Der Herr der Ringe“ so, aber die britischen Romanautoren haben einfach stärker zu mir gesprochen.
Wie wirst du deine Tage in Wien verbringen?
Ich bin mit meinen Eltern hier und werde mit ihnen in Ruhe die Stadt, sowie Kunst und Kultur besichtigen. Ich habe meine Kamera mit und werde viele Fotos machen und wir werden natürlich viel und gut essen. Einfach entspannen und das Leben genießen.
Live im Konzerthaus
Heute Abend spielt Jamie Cullum noch einmal im Wiener Konzerthaus. Unter www.konzerthaus.at beziehungweise an der Abendkassa gibt es noch Restkarten für das furiose Highlight mit dem britischen Topstar.
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