Frage nach Einsatzort
Atomwaffen: „Die Drohung wird sehr ernst genommen“
Geht Russland so weit und setzt im Krieg gegen die Ukraine Atomwaffen ein? Diese Frage besorgt die Welt, seit Kreml-Chef Wladimir Putin mit dem Einsatz von taktischen Nuklearwaffen gedroht hatte - bereits am vierten Tag der Invasion. Mit einer solchen Waffe könnte Russland den Krieg für sich entscheiden - und würde ein seit 1945 bestehendes Tabu brechen. ORF-Korrespondent Christian Wehrschütz sieht die Gefahr als real an: „Diese Drohung gibt es, diese Drohung wird auch von allen Militärexperten ernst genommen.“
Was man nicht weiß, so Wehrschütz im Ö1-„Morgenjournal“ aus der Ukraine, ist, wo ein Einsatz stattfinden könnte: „Ob das auf ukrainischem Territorium ist oder nur eine Demonstration auf unbewohntem Gebiet wo auch immer, das weiß man nicht. Das macht die Gefahr so groß.“
Und auch, dass es zwischen den Supermächten keine Kommunikationslinie gebe. Die Gefahr sei, dass man, wenn man nicht miteinander reden könne, „durch Fehleinschätzungen in eine Schwelle von Einsatz von Waffen“ hineinkomme, „die kein Mensch will“.
„Die Frage ist: Wo setze ich was ein?“
Die Frage, die bleibe, sei, „wo setze ich was ein?“. Wenn man etwas erobern und nicht nur zerstören will, dann wäre der Einsatz solcher Waffen - und auch chemischer und biologischer Kampfstoffe - etwas, das auch die eigenen Truppen gefährdet. Ein Einsatz solcher Waffen in der Westukraine sei „ein Instrument des Terrors“ und würde jedes Kriegsvölkerrecht verletzen.
„Die Russen brauchen verzweifelt militärische Siege“
Das Problem ist: Mit konventionellen Waffen hat es die russische Armee in einem Monat nicht geschafft, den Widerstand der ukrainischen Streitkräfte und der Bevölkerung zu brechen. „Die Russen brauchen verzweifelt militärische Siege, um sie in einen politischen Hebel umzuwandeln“, sagt Mathieu Boulègue von der britischen Denkfabrik Chatham House. „Chemische Waffen würden das Gesicht des Krieges nicht ändern. Eine taktische Nuklearwaffe, die eine ukrainische Stadt auslöscht, schon.“ Das sei „unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen“, so Boulègue.
Fakten
Eine taktische Nuklearwaffe hat eine kleinere Sprengladung als eine strategische Atomwaffe und ist theoretisch auch für das Schlachtfeld bestimmt.
Experten: Atomwaffen in begrenztem Umfang eine „Option“
Welche Grundsätze in Russland für den Einsatz von Atomwaffen gelten, ist unklar. Einige Experten und Militärs, vor allem in Washington, behaupten, dass Moskau die sowjetische Doktrin, die ultimative Waffe nicht als Erster einzusetzen, aufgegeben habe. „Eskalation zur Deeskalation“ sei nun die Maßgabe. Atomwaffen in begrenztem Umfang einzusetzen, um die NATO zum Rückzug zu zwingen, sei nun eine Option.
Pawel Lusin vom Moskauer Institut Riddle ist der Meinung, der Kreml könnte eine taktische Nuklearwaffe einsetzen, um seinen Gegner zu demoralisieren und den Feind daran zu hindern, weiterzukämpfen. Dabei gehe es zunächst um eine Demonstration der Stärke, „aber wenn der Gegner danach noch immer kämpfen will, kann sie auf direktere Weise eingesetzt werden“.
Andere Experten sind überzeugt, dass Putin keinen Atomkrieg riskieren wird, auch nicht mit taktischen Waffen, die eine Region für Jahrzehnte unbewohnbar machen würden. „Die politischen Kosten wären ungeheuerlich. Er würde die wenige Unterstützung verlieren, die er noch hat. Die Inder würden sich abwenden, die Chinesen auch“, sagt William Alberque vom International Institute for Strategic Studies (IISS).
„Es gibt eigentlich keine Grenzen mehr"
Doch seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar gelten viele Gewissheiten nicht mehr. „Der anfängliche Rubikon wurde überschritten, es gibt eigentlich keine Grenzen mehr“, sagt ein westlicher Diplomat. „Wir haben keinen Grund anzunehmen, dass Putin nicht die Absicht hat, die Sache zu Ende zu bringen, und dass er nicht alle Mittel einsetzen wird, um dies zu erreichen - möglicherweise durch den Einsatz verbotener Waffen“, sagt er und denkt dabei zunächst an chemische Waffen.
Russland wäre für Atomkrieg militärisch bestens gerüstet
Für einen Atomkrieg wäre Russland jedenfalls militärisch bestens gerüstet: Das Arsenal umfasst laut der Fachzeitschrift „Bulletin of the Atomic Scientists“ 1588 stationierte Atomsprengköpfe, davon 812 auf landgestützten Raketen, 576 auf U-Booten und 200 auf Bombern. Weitere knapp tausend Sprengköpfe seien gelagert. Man werde Atomwaffen in der Ukraine aber nur im Falle einer „existenziellen Bedrohung“ Russlands einsetzen, hatte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Dienstag gesagt.
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