Ständiges Misstrauen

Eigene, orthodoxe Welt: Das ewige Rätsel Russland

Ausland
26.03.2022 07:50

Warum verhält sich Russland so, wie es sich verhält? Darüber rätselt Europa seit Jahrhunderten. Eine eigene, orthodoxe Welt, getrieben von Misstrauen besonders gegenüber dem Westen. Russland-Experte: „Russland hat historisch schon immer das Problem gehabt, einen Großmachtanspruch zu stellen, ohne ihn, mit Ausnahmen, erfüllen zu können. Die Ambitionen übersteigen die Möglichkeiten.“

Warum ist es seit dem Abschütteln des „mongolischen Jochs“ der Inbegriff von Unfreiheit und (geistiger) Abschottung? Weshalb endet alle Macht stets in der absoluten Allmacht einer Person?

Liberalismus nur in Ansätzen unter Gorbatschow
Schwer wiegt das bleierne Gewicht der reaktionären Orthodoxen Kirche, diese Spaltung zur „lateinischen“ Kirche. Modernisierungsimpulse kamen immer nur aus der Ideenwelt des Westens, stoßweise, bevor das Reich dann wieder in Stagnation fiel: Zar Peter I., der den Russen die Bärte abschnitt und sie in westliche Kleidung zwang; oder die deutsche Prinzessin Sophie von Anhalt-Zerbst, die als Zarin Katharina II. einen Hauch von Aufklärung brachte; oder Lenins Marxismus. Den Liberalismus hat das Reich nie erlebt, außer in Ansätzen unter dem „Westler“ Gorbatschow („Glasnost“).

Begegnung zweier russischer Welten: Michail Gorbatschow, Wladimir Putin (Bild: REUTERS)
Begegnung zweier russischer Welten: Michail Gorbatschow, Wladimir Putin

Haltung des Westens war für Putin große Überraschung
Heute ist es wieder so weit: Heiliges Mütterchen Russland gegen den Rest der Welt (in der UNO 141:5). Den bisher besten Erklärungsversuch des ewigen und des aktuellen Rätsels Russland liefert der Stalin-Biograf Stephen Kotkin. Sein Fazit: Russland hat historisch schon immer das Problem gehabt, einen Großmachtanspruch zu stellen, ohne ihn, mit Ausnahmen, erfüllen zu können. Die Ambitionen übersteigen die Möglichkeiten.

Prof. Kotkin in der Zeitschrift „New Yorker“: „Was wir heute sehen, sind historische Muster - ein Autokrat, Unterdrückung, Militarismus, Misstrauen gegen das Fremde und vor allem gegen den Westen.“

Zitat Icon

All dieser Unsinn, wie dekadent der Westen sei, dass es mit dem Westen vorbei sei - all das erwies sich als großer Quatsch. Das muss Putin schockiert haben! Welch eine Fehleinschätzung!

Russlandkenner Stephen Kotkin

Das Urproblem durch die Geschichte sieht Stephen Kotin darin, dass Russland immer glaubte, als Macht des orthodoxen Ostens eine historische Mission erfüllen zu müssen: „Es kämpfte ständig um diese Ansprüche, konnte sie aber nicht erfüllen, da der Westen immer der Mächtigere blieb. Um diese Kluft zu überwinden und das Land vorwärts zu treiben, greifen seine Autokraten zur Gewalt.“

(Bild: AFP)

Konzentration der Macht auf eine Person
Die Konzentration der Macht auf eine Person und der Durchgriff der Autokraten nach unten, so Kotkin, habe in der Geschichte eine selbstständige Entwicklung staatlicher Strukturen behindert. Putin griff auf das altrussische Muster zurück.

Die Blindheit von Autokraten reiche an Selbstbetrug. So habe Putin in Bezug auf die Ukraine das erwartet, was er selbst dachte: dass die Ukrainer gar kein eigenständiges Volk seien, dass sie die Russen mit offenen Armen empfangen würden, um von einem von außen dirigierten Regime befreit zu werden.

Eine große Überraschung für Putin, so Prof. Kotkin, muss die Haltung des Westens gewesen sein: „All dieser Unsinn, wie dekadent der Westen sei, dass es mit dem Westen vorbei sei - all das erwies sich als großer Quatsch. Das muss Putin schockiert haben! Welch eine Fehleinschätzung!“

Der Rote Platz in Moskau (Bild: AFP)
Der Rote Platz in Moskau

„Westen hat sich gegen Putin erhoben“
Zitat Kotkin: „Der Westen ist kein geografischer Begriff, er ist eine Welt der gemeinsamen Werte. Russland ist Teil Europas, aber nicht des Westens, Japan ist Westen, aber nicht Europa. Dieser Westen hat sich gegen Putin erhoben, in einem Ausmaß, das weder er noch Xi Jinping erwartet haben Wenn du davon ausgehst, dass der Westen aus Kabul davongerannt ist, dass Zelenskij nur ein TV-Komiker ist, ein Russisch sprechender Jude, musst du glauben, dass Kiew in zwei bis vier Tagen zu nehmen ist.“

Videoansprache des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj beim G7-Treffen in Brüssel. Einmal mehr forderte Selenskyj härtere Sanktionen gegen Russland. (Bild: EPA)
Videoansprache des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj beim G7-Treffen in Brüssel. Einmal mehr forderte Selenskyj härtere Sanktionen gegen Russland.

Putsch gegen Putin?
Palastputsch gegen Putin? Professor Kotkin: „Man muss davon ausgehen, dass Autokraten aus Vorsicht Leute um sich auswählen, die die Russen ,tupoj', Idioten, nennen. Diese negative Auslese von Ja-Sagern redet Putin auch allen Unsinn ein. Jedenfalls haben wir keine Ahnung, was dort vorgeht ... Zar Peter III. war von seinen eigenen Leuten abgesetzt, dessen Sohn von seinen eigenen Leuten ermordet, Kremlchef Nikita Chruschtschow von seinem Politbüro abgesetzt worden.“

Eine „goldene Brücke“ des Auswegs für Putin? Prof. Kotkin: „Putin hat u.a. die Option: ,Wenn ich schon die Ukraine nicht bekommen kann, soll sie auch niemand anderer haben.‘ Das wäre das Schicksal von Groznij oder Aleppo. Das müssen wir verhindern. Man könnte Putin in einen Diskussionsprozess einbinden, etwa mit dem Präsidenten von Finnland, den er schätzt, oder dem israelischen Regierungschef. Auch die Waffenhilfe an die Ukraine kann ein Umdenken bringen.“

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