„Krone“-Interview

Klitschko: „Wir werden nicht in die Knie gehen“

Persönlich
27.03.2022 06:00

Er verteidigt die ukrainische Hauptstadt im Krieg gegen Russland: Vitali Klitschko (50), ehemaliger Box-Superstar und Bürgermeister von Kiew. Conny Bischofberger erreichte ihn und seinen Bruder Wladimir im Luftschutzkeller.

In Kiew ist es 13 Uhr, als am Samstag das dreimal verschobene Interview mit Vitali Klitschko endlich stattfinden kann. Der Bürgermeister von Kiew trägt wie immer Militärmontur, sein Blick ist ernst. Neben ihm nimmt auch sein Bruder Wladimir Platz, die beiden befinden sich in einem Luftschutzkeller der umkämpften ukrainischen Hauptstadt.

Die ehemaligen Box-Champions sprechen perfekt Deutsch. Das letzte Interview haben wir 1999 in Hamburg geführt. Damals hätten sich die Klitschkos wohl nicht vorstellen können, dass sie mehr als 20 Jahre später gemeinsam zu den Waffen greifen und gegen die Putin-Armee kämpfen würden.

„Krone“: Wie ist im Moment die Lage in Kiew?
Vitali Klitschko: Erst ein paar Minuten, bevor Sie angerufen haben, gab es wieder einen Raketenalarm. Heute früh wurde der sechste Stock eines Wohnhauses getroffen. Es klingt schrecklich, aber wir sind die Bombardierungen mittlerweile schon fast gewöhnt.

Der ukrainische Heeresstabschef Olexander Grusewitsch rechnet offenbar mit einem groß angelegten Angriff russischer Truppen auf Kiew. Sie auch?
Das wünscht sich Moskau, aber bisher hat unsere Armee alle Pläne der Russen vereitelt. Die Städte Irpin und Bucha, die vor einigen Tagen noch von russischen Truppen belagert waren, haben wir schon zurückerobert. Derzeit befindet sich die russische Armee ca. 25 Kilometer von der Stadtmitte entfernt. Die Situation ist sicher schwierig, aber nicht kritisch.

Sie sind immer mittendrin. Schusssichere Weste, kämpferischer Blick. Haben Sie keine Angst?
Als Bürgermeister von Kiew und als Bürger unserer Stadt kann ich nur sagen: Die Russen werden es nicht schaffen, Kiew zu erobern. Wir haben aus unserer Hauptstadt eine Festung gemacht, jedes Gebäude, jede Straße ist eine Festung. Und wir haben so viele patriotische Kämpfer. Jeder Kiewer Bürger - auch Ärzte, Musiker, Künstler - hat die zivile Kleidung abgelegt und trägt jetzt Uniform. Alle haben ein Maschinengewehr in die Hand genommen, alle sind bereit, unsere Stadt, unsere Familien, unsere Kinder zu verteidigen. Wir werden niemals in die Knie gehen.

Skypen mit dem Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko (Bild: Alexander Bischofberger-Mahr)
Skypen mit dem Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko

Sie haben die Frage nach der Angst nicht beantwortet …
Vitali blickt zu seinem Bruder Wladimir. Dieser ergreift das Wort.
Wladimir Klitschko: Wir sind 40 Millionen Ukrainer und keiner von den 40 Millionen ist in Sicherheit. Aber wir tragen das Risiko gemeinsam. Wir haben keine andere Wahl. Sollen wir aufgeben? Wir wollen nicht in einer Diktatur leben, in einem autoritären Staat. Wir waren schon bei der Sowjetunion, keiner will „back to the USSR“! Wir sehen uns als europäisches Land, als demokratisches Land. Wir verteidigen deshalb nicht nur die Ukraine, sondern auch euch, wir verteidigen Europa und auch Österreich, wir verteidigen die Werte und Prinzipien, die Russland gebrochen hat. Haben wir Angst? Natürlich haben wir Angst.

Der Bürgermeister von Melitopol wurde von den Russen entführt und gefoltert. Wie geht es Ihnen damit, auf Putins Todesliste zu stehen?
Alle Repräsentanten von Gemeinden und Städten sind ein Ziel der russischen Führung. Es gibt sogar noch ein schlimmeres Beispiel. Der Bürgermeister von Hostomel, das ist eine Stadt nördlich von Kiew, hat Medikamente und Lebensmittel zu seinen Bürgern gebracht und wurde von den Russen erschossen. Deswegen muss ich es noch einmal sagen: Das ist kein Krieg gegen militärische Ziele, das ist ein Krieg gegen die ukrainische Zivilbevölkerung, ein Völkermord an den Menschen unseres Landes. Sonst wären nicht so viele Wohngebiete völlig zerstört.

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Das ist kein Krieg gegen militärische Ziele, das ist ein Krieg gegen die Menschen. Sonst wären nicht so viele Wohngebiete völlig zerstört.

Wladimir Klitschko

Wladimir, wie wichtig ist es Ihnen, jetzt bei Ihrem Bruder zu sein und ihn in diesem Kampf zu unterstützen?
Ich bin bei allen meinen Brüdern und Schwestern in der Ukraine. Wir stehen zusammen in diesem kriminellen Krieg, den das Putin-Regime begonnen hat. Es ist ein sehr gefährlicher Krieg, auch für die Weltgemeinschaft. Wir haben vier Atomkraftwerke mit zig Reaktoren. Die Ukraine hat die Atomwaffen in den 1990er-Jahren abgegeben. Dieses Abkommen hat auch Russland unterschrieben. Aber erst vor ein paar Tagen wurde wieder eines der Kraftwerke in Brand gesetzt. Das Feuer konnte gelöscht werden, aber die Gefahr, dass eine der fast 2000 Raketen, die auf ukrainischem Boden eingeschlagen sind, eines Tages ein AKW trifft, diese Gefahr ist real. So wie russische Raketen auch den malaysischen Flieger über dem Donbas vom Himmel geholt haben.

Vitali, Sie haben den russischen Präsidenten Wladimir Putin 2008 persönlich getroffen. Er hat Ihnen damals als Boxer viel Glück gewünscht. Träumen Sie manchmal davon, ihn k. o. zu schlagen?
Vitali Klitschko sagt lange Zeit nichts. Auch sein Bruder schweigt. Dann ringt er sichtlich nach Worten.

Vitali Klitschko: Ich glaube, dass Putin krank ist. Was muss in einem Kopf vorgehen, der so viel Leid über Millionen von Menschen bringt? Was Putin macht, ist nicht nur ein Drama für unser Land, sondern für ganz Europa. Das ist der größte Krieg nach dem Zweiten Weltkrieg. Tausende Zivilisten, auch Frauen und Kinder, sind gestorben, viele Städte und Kulturgüter sind zerstört. Vom wirtschaftlichen Schaden ganz zu schweigen. Was macht das alles für einen Sinn? Was ist Putins Ziel? Ein Imperium wieder zu errichten? Er wird - hoffentlich vor dem Kriegsverbrechertribunal - die Verantwortung übernehmen müssen für das, was er tut. Und dann gelingt es ihm auch noch, der eigenen Bevölkerung weiszumachen, dass wir Extremisten und Nazis und Faschisten sind, dass wir die Russen hassen. Aber das ist eine Lüge.

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Ich glaube, dass Putin krank ist. Was muss in einem Kopf vorgehen, der so viel Leid über Millionen von Menschen bringt?

Klitschko über Putin

Haben Sie Arnold Schwarzenegger für seine Videobotschaft gedankt, in der er genau das gesagt hat?
Wir haben ihm eine Nachricht geschickt, denn seine Worte waren sehr wichtig für die Ukraine. Keiner hier hasst die Russen. Wir Ukrainer sind ein friedliches Volk. Russisch ist meine Muttersprache, in unseren Adern fließt russisches Blut. Wir haben nichts gegen die russischen Bürger, wir haben nur etwas gegen die aggressive russische Politik.

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Wir wollen nicht in einer Diktatur leben. Wir sehen uns als demokratisches Land. Deshalb verteidigen wir nicht nur die Ukraine, sondern auch Europa.

Die Klitschko-Brüder in Kiew

Welchen Ausweg sehen Sie in diesem Krieg? Hoffen Sie, dass die Friedensgespräche zu einem Ergebnis führen werden? 
In meinen Ohren klingt es komisch, wenn die russische Seite betont, dass wir einen Kompromiss finden müssen, eine Lösung. Was für einen Kompromiss? Unser Territorium wurde besetzt, unsere Bürger sterben. Wir können nur über einen Kompromiss reden, wenn sich die russische Armee aus der Ukraine zurückzieht. Solange sie das nicht tut, gibt es für uns nur einen Weg. Unser Land zu verteidigen.

Was wäre so schlimm daran, Neutralität zu garantieren? 
Wir waren immer neutral, wir waren immer freundlich. Wir haben unsere Atomwaffen abgegeben, im Gegenzug wurden uns Unabhängigkeit und territoriale Integrität versprochen, unter anderem von Russland. Trotzdem gab es die Annexion der Krim, die Vorgänge in Donezk und Luhansk. Und heute haben wir Krieg. Von welcher Neutralität sprechen wir also?

2011 in Moskau: Vitali (links) gratuliert seinem Bruder Wladimir zum Boxsieg gegen den Briten David Haye. (Bild: AFP)
2011 in Moskau: Vitali (links) gratuliert seinem Bruder Wladimir zum Boxsieg gegen den Briten David Haye.

Tut der Westen genug? 
Wir sind sehr, sehr dankbar für die großartige humanitäre Hilfe, für die Unterstützung der Ukraine. Wir sehen jetzt, wer unsere echten Freunde sind. Aber wir sehen auch viele, die „halb schwanger“ sind. Auf der einen Seite unterstützen sie die Ukraine und bezeichnen den Krieg als ganz furchtbar, auf der anderen Seite halten sie ihre wirtschaftlichen Verbindungen zu Russland aufrecht. Ich möchte noch einmal betonen: Jeder Cent und jeder Euro, den die Europäer nach Russland schicken, wird in den Krieg investiert. Das Geld, mit dem Geschäfte in Russland gemacht werden, ist blutiges Geld. Russland kauft damit Waffen, mit denen unsere Bürger umgebracht werden.

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In unseren Adern fließt russisches Blut. Wir haben nichts gegen die russischen Bürger, wir haben nur etwas gegen die aggressive russische Politik.

Die Klitschkos über die russische Propaganda

Hat der Papst sich nach Ihrer Einladung eigentlich schon gemeldet?
Ja, wir haben eine offizielle Antwort vom Heiligen Vater bekommen. Er betet für die Ukraine, er ist tief berührt und fassungslos über die ganze Situation. Das ist ein wichtiges Signal für die ganze Welt. Wir hoffen, dass er unsere Einladung nach Kiew vielleicht doch noch annimmt.

Das klingt etwas gefährlich …
Aber wissen Sie, was noch gefährlicher ist? Passiv zu sein. Denn wenn jemand denkt, dieser Krieg sei weit weg, dieser Krieg berühre ihn nicht, dann liegt er falsch. Dieser Krieg betrifft nicht nur 40 Millionen Ukrainer, sondern ganz Europa. Ich bin mir nämlich nicht sicher, ob die russischen Pläne an den ukrainischen Grenzen enden. Deshalb müssen wir unsere Kräfte bündeln. Nur eine gemeinsame europäische Position kann der Schlüssel zum Frieden in Europa und in der Ukraine sein. Gemeinsam sind wir stärker als Putin.

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Jeder Cent, den die Europäer nach Russland schicken, wird in den Krieg investiert, in dem unsere Bürger sterben. Das ist blutiges Geld.

Klitschko über die Sanktionen gegen Russland

Was soll man in 20 Jahren einmal über die Klitschko-Brüder sagen?
Ich hoffe, dass wir in 20 Jahren noch für uns selbst sprechen können. - Beide lachen jetzt das erste Mal. - Vielleicht: Sie haben bis zuletzt gekämpft.

Möchten Sie noch jemanden grüßen?
Ja, sehr gerne. Und zwar die Familie Hauser und das ganze Team vom „Stanglwirt“ in Tirol. Wir haben dort beide oft trainiert. Wissen Sie, der Stanglwirt war der Erste, der uns im Krieg unterstützt hat. Nicht nur finanziell, sondern auch mit Taten: Dafür ein riesengroßes Dankeschön!

Dr. Eisenfaust regiert Kiew

  • Vitali Wladimirowitsch Klitschko, geboren am 19. Juli 1971 in Kirgistan (ehemalige UdSSR).
  • Der Vater ist Oberst bei der sowjetischen Luftwaffe, die Mutter Lehrerin.
  • Er und sein jüngerer Bruder Wladimir haben es im Boxring bis ganz an die Spitze geschafft, beide wurden Weltmeister.
  • Vitali hat auch Sport studiert, was ihm den Spitznamen „Dr. Eisenfaust“ eingebracht hat.
  • 2010 wird Vitali Parteivorsitzender der Ukrainischen Demokratischen Allianz für Reformen, 2014 Bürgermeister von Kiew.
  • Seine Ehefrau Natalia ist Sängerin und unterstützt ihren Mann von Hamburg aus. Das Paar ist seit 1996 verheiratet und hat drei Kinder. 
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