In seiner neuen Reihe „Hier war ich glücklich“ begleitet Robert Schneider bekannte und unbekannte Menschen aus Vorarlberg an die Lieblingsplätze ihrer Kindheit. In Gurtis traf er vor kurzem die Schauspielerin und dreifache Mutter Anna Neuschmid-Gross.
Von November bis Februar nur wenig Sonne, und auch an den vergangenen schönen Märztagen liegt das Dörfchen Gurtis überwiegend in lange, graublaue, kalte Schatten getaucht. Aber einen Flecken gibt es, direkt neben der Kirche, mitten im Zentrum, wo die Sonnenstrahlen eine unscheinbare „Bündt“ aufwärmen. Dann nämlich, wenn sie hinter der Gurtisspitze plötzlich hervorbricht und den Platz für eine Stunde bescheint. Im Handumdrehen wird es warm. Anna Neuschmid-Gross, dreifache Mutter und Sprössling der Schauspielerdynastie Vögel-Neuschmid öffnet den Zippverschluss ihrer dicken Winterjacke. Das hier ist der Platz ihrer Kindheit, eine ebene Bergwiese, unverbaut, direkt im Herzen von Gurtis, umstellt von Wohnhäusern. Ich wundere mich ein wenig: unter einem Kindheitsplatz habe ich mir etwas Stilles und Verschwiegenes vorgestellt.
Robert Schneider: Anna, was ist Glück?
Anna Neuschmid-Gross: Meine Antwort passt jetzt vielleicht nicht zu deiner Frage. Kürzlich bin ich mit dem Fahrrad nach Gurtis hoch gefahren. Mir war gar nicht mehr bewusst, wie lang diese Strecke ist, welche Zeit es dafür braucht, und vor allem - wie anstrengend das war. Wir sind es ja gewohnt, ganz schnell von A nach B zu kommen. Und darüber haben wir die Wertschätzung verloren. Glück, würde ich sagen, ist Wertschätzung, dass eben nichts selbstverständlich ist. Das muss ich mir selbst immer wieder bewusst machen. Daran arbeite ich.
Schneider: Warum wurde gerade diese Wiese mitten im Dorf zum Ort deiner Kindheit? Für Heimlichkeiten war da vermutlich kein Platz.
Neuschmid-Gross: Das hing mit den Tieren zusammen. Mit etwa zehn Jahren schaffte mein Papa zwei Kreuzesel an, Hänsel und Gretel, und da bot sich diese ebene Wiese im Dorf an, die wir dann auch benutzen durften. Dann kam Daisy in mein Leben, ein Haflinger-Baby, das eigentlich geschlachtet werden sollte, weil es von seiner dunklen Farbe dem Besitzer nicht gepasst hatte. Das war eine intensive Zeit. Da war ich bei Regen, Sonne und Schnee draußen. Ich fühlte mich natürlich besonders wichtig, wenn ich Daisy longierte und die Leute stehen geblieben sind und mir zugeschaut haben. Diese Phase dauerte bis ich fünfzehn oder sechzehn war. Es ist komisch, aber ich weiß nicht, was später aus Daisy geworden ist. Ich bin dann nämlich auf die Tourismusschule gegangen. Dieses abrupte Ende tut mir heute noch leid. Das war nämlich eine ganz wertvolle Zeit. Wenn ich heute an der Wiese vorbeilaufe, sehe ich Daisy immer noch dort grasen.
Schneider: Warst du als Kind mehr die Anführerin oder die Geführte?
Neuschmid-Gross: Anführerin. Stresspartie. Aber auch lustig. Vor allem laut. Mein Mann sagt heute noch zu mir: „Poltere nicht so durchs Haus!“ Dennoch waren wir keine unguten Kinder, indem wir andere oder schwächere bis aufs Blut gehänselt hätten. Das Gegenteil. Das soziale Miteinander habe ich ganz stark von meiner Oma mitbekommen. Gleichzeitig war ich ein Kind, das immer Sicherheit brauchte. Regeln, eine Struktur, einen Plan. Das ist auch heute noch so. Grenzen ausloten war nie meine Sache. Ich bin kein mutiger Mensch. Eigentlich bin ich eine Pessimistin.
Schneider: Wieso?
Neuschmid-Gross: Wie ein Anderer halt Optimist ist, bin ich eben auf der schwermütigen Seite. Was soll ich da erklären? Vielleicht sind es die Gene. Ich bin in allem sehr ambivalent. Vor allem sehr emotional. Interessanterweise habe ich kaum wirklich starke Emotionen oder Erinnerungen an meine Kindheit. Vielleicht deshalb, weil wir viele Kinder waren. Es fällt mir auch schwer, einen klaren Gedanken an die Kindheit zu fassen. Alles war so „smooth“ und eigentlich ereignislos. Vielleicht sollte ich das einmal psychologisch aufarbeiten.
Wie ein Anderer halt Optimist ist, bin ich eben auf der schwermütigen Seite.
Anna Neuschmid-Gross
Schneider: Wir leben in einer aus den Fugen geratenen Welt. Die guten Jahre sind vorbei. Hilft da die Erinnerung an eine geglückte Kindheit? Gibt das Trost?
Neuschmid-Gross: Man muss wirklich aufpassen, dass man sich nicht verliert. Mich wühlt das oft sehr auf. Dieser Gedanke, dass alles möglich ist, wenn man es nur will, macht die Leute krank. Wir sind von permanentem Stress und einer so unguten Gier umgeben. Was mich tröstet ist das, was ich habe. Das Zuhause, meine Familie, mein Mann. Es ist das Naheliegende, das Kleine, was mir wirklich Kraft gibt. Ich achte sehr darauf, mich nicht verleiten zu lassen, gerade durch die Medien, die alles so unglaublich aufbauschen und ins Negative ziehen. Aber auch da bin ich sehr ambivalent. So bald ich in der Öffentlichkeit bin, kratzt das wieder alles an mir. Ich mische mich ein, muss auch noch was dazu sagen und verliere dadurch wieder an Freiheit. Dann ist wieder diese Ambivalenz da. Auf der einen Seite bin ich ein Feigling, ein unsicherer Mensch, habe Angst vor allem Neuen, auf der anderen Seite, wenn ich wirklich den Mut habe, etwas in die Tat umzusetzen, fühle ich mich stärker als alle zusammen. Dann frage ich mich: Warum tust und machst du nicht mehr aus dir? Nur der Blick und die Beobachtung meiner Kinder zeigt mir dann, dass sie eigentlich schon ganz fertig auf diese Welt gekommen sind und ich nur noch an den Rändern etwas bewegen kann.
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