Seine Reise nach Kiew UND Moskau sorgt weltweit für Schlagzeilen. Mit Conny Bischofberger spricht Karl Nehammer über Putins Augen, 75 Minuten zwischen russischer Kriegslogik und Eindrücken aus Butscha, Kritik an der heiklen Mission und wie er mit dem Vorwurf umgeht, daraus politisch Kapital zu schlagen.
48 Stunden sind zum Zeitpunkt des „Krone“-Interviews seit dem zwiespältig kommentierten Putin-Besuch vergangen, die Kollegen des amerikanischen Nachrichtensenders CNN verlassen gerade das Bundeskanzleramt. Mit seinem diplomatischen Coup, in die Ukraine UND nach Russland zu reisen, ist Karl Nehammer in der Weltpolitik angelangt. Der runde Tisch im Marmor-Ecksalon ist mit einer weißen Tischdecke belegt, der Kanzler nimmt am anderen Ende Platz und lässt sich einen Espresso bringen. Der Abstand zwischen uns beträgt drei Meter und erinnert ein wenig an den langen Tisch im Kreml. Nehammer wirkt nachdenklich und angespannt. Erst am Ende des Gesprächs, als es um das Eierpecken zu Ostern geht, huscht ein leises Lächeln über sein Gesicht.
„Krone“: Ihr Treffen mit Wladimir Putin macht international Schlagzeilen. Sind Sie stolz darauf?
Stolz ist der falsche Ausdruck, weil die Wucht des Krieges für mich noch immer spürbar ist. Die Bilder von Butscha werden mich mein Leben lang begleiten. Das Massengrab, die Angst der Menschen … Und gleichzeitig ihre Entschlossenheit, gegen die russische Armee zu kämpfen. Ich habe zerstörte Panzer gesehen, in denen russische Soldaten verbrannt sind. Als Soldat konnte ich mir auch vorstellen, wie es für die Verteidiger ist, diese Tötungsmaschinen zu bedienen, um ihr Land zu verteidigen. Stolz bin ich nicht, aber mir ist wichtig, dass es gelungen ist, sowohl mit Zelenskji als auch mit Putin über all das zu sprechen.
„Ihm in die Augen sehend von den Schrecken des Krieges zu berichten“ - so haben Sie die Mission beim russischen Präsidenten beschrieben. Was haben Sie in diesen Augen gesehen?
Entschlossenheit. Die Entschlossenheit der Kriegslogik. Er war in seinen Botschaften ebenso klar, wie ich es war. Ich habe aber während unseres Gesprächs auch immer wieder Nachdenklichkeit gespürt. Putin hat sehr genau zugehört. Es war ein sehr direktes, mitunter hartes Gespräch von beiden Seiten, mit keinerlei diplomatischer Rücksichtnahme.
Haben Sie seine Kriegslogik verstanden?
Die ist nicht zu verstehen. Krieg ist immer ein Verbrechen an der Menschheit. Deshalb war das Gespräch eine Gratwanderung. Einerseits wollte ich zuhören, andererseits habe ich mich immer wieder klar positioniert. Österreich ist ein neutrales Land. Das bleibt auch so. In unserer aktiven Neutralitätspolitik sind wir ein glaubhaftes und redliches Gegenüber, wenn es um den Frieden geht. Aber es war auch wichtig und richtig, das, was ich gesehen habe, darzulegen.
Wie reagiert Putin auf die Schrecken des Krieges?
Wieder mit seiner Logik. Dass er eine Ungerechtigkeit gegenüber den Russen empfindet, auch gegenüber den Russen in der Ukraine. Dass er ein Problem mit der, wie er es nennt, Doppelmoral des Westens hat. Dass die NATO-Osterweiterung in seinen Augen ein Bruch der Vereinbarungen war. Aber auch hier musste ich ihm widersprechen. Denn die Ukraine wurde in ihrem Wunsch, der NATO beizutreten, ja nicht gezwungen, das war ein freier Entschluss eines freien Volkes, und das hat auch die Russische Föderation zu respektieren. Meine wichtigste Forderung war, dass die Kriegsverbrechen aufgeklärt werden müssen und dass es dafür die internationale Strafjustiz braucht. Das waren wichtige und zentrale Punkte unserer Diskussion und hier wurde deutlich, dass es diametrale Unterschiede in der Auffassung gibt.
Um Gas ging es gar nicht?
Das Gas hat Putin irgendwann angesprochen, schon ziemlich am Ende unseres Gesprächs. Er meinte, die Gasversorgung in Europa sei sichergestellt.
Welche Botschaft von Zelenskij haben Sie Putin überbracht und hatte er eine Botschaft an den ukrainischen Präsidenten?
Präsident Zelenskji hat ein Vier-Augen-Gespräch verlangt, er wollte, dass ich das Thema Mariupol anspreche, die humanitäre Situation vor Ort, humanitäre Korridore, das Thema Wasserversorgung, den Umgang mit den Verletzten. Putin seinerseits hatte keine Botschaft an Zelenskji.
Vitali Klischko, der Bürgermeister von Kiew, meinte im „Krone“-Interview, dass Putin psychisch krank sei. Gab es Anzeichen, dass es ihm nicht gut geht?
Er war in bester Verfassung und in seinen Botschaften sehr klar.
Haben Sie die ganzen 75 Minuten Deutsch gesprochen?
Nein, nur am Anfang. Als wir zum formellen Teil kamen, wurde simultan übersetzt. Putin war es wichtig, so präzise wie möglich zu sein. Wir sprachen in ein Mikrofon, die Akustik war okay. Getränke waren auch aufgestellt am Rand, aber wir haben nichts getrunken.
Stimmt es, dass er Sie eine Stunde warten ließ?
Nein, das stimmt nicht. Wir sind ein bisschen später losgefahren, vor Ort haben wir höchstens 10 Minuten gewartet.
Wie lange war der Tisch?
Nicht so lange wie der Tisch im Kreml. Aber doch mehr als doppelt so lange wie der Abstand zwischen uns. Ich würde sagen sechs Meter. Das war auch den Sicherheitsmaßnahmen und Covid geschuldet.
Und am Ende, haben Sie da einander die Hand gereicht?
Nein. Es gab keinen Handschlag. Mein letzter Satz war: „Der Krieg muss aufhören.“ Er hat dann auf Deutsch geantwortet: „Besser früher als später.“
Das klingt eher wie eine gefährliche Drohung. Wie interpretieren Sie es?
Ich glaube, Putin ist total in seiner Kriegslogik angekommen. Obwohl er weiß, dass die Sanktionen für sein Land schwerwiegend sind - er hat in unserem Gespräch zugegeben, dass sie Russland zusetzen - obwohl er das weiß, sieht er es dennoch als unabdingbar an, diesen aus seiner Sicht notwendigen Kampf zu führen. Deshalb denke ich, dass sein Schlusssatz eher auf eine neue Offensive hingedeutet hat.
War es Ihr schwierigstes Gespräch bisher?
Diplomatisch gesehen schon. Mein emotional schwierigstes Gespräch, das ich niemals vergessen werde, war mit der Mutter und der Schwester eines Opfers des Terroranschlags vom 2. November 2020.
Hat der Westen Putin vielleicht zu wenig zugehört?
Das ist ein wichtiger Punkt. Die Antwort ist Nein und das habe ich auch dem Präsidenten gesagt. Keines seiner Argumente rechtfertigt Krieg, eine Invasion mit unzähligen zivilen Todesopfern. Die Probleme müssen diplomatisch gelöst werden, es muss Verhandlungen geben. Man kann mit jemandem, der mit Raketen und Panzern Politik macht, nicht über seine Argumente diskutieren.
Was haben Sie sich dann dabei gedacht? Dass Österreich als kleines Land auf der Weltbühne mitspielen kann?
Ich finde, das ist ein interessantes Argument. Der Umkehrschluss würde bedeuten, dass Österreich nichts tun soll, weil es zu klein ist? Mein Zugang ist ein anderer: Wir sind bündnisfrei, militärisch neutral und können unsere Unabhängigkeit dafür einsetzen, eine Hilfestellung in dieser verfahrenen Situation anzubieten. Das habe ich mir gedacht, dass es allemal gut ist, es zu versuchen.
Das habe ich mir gedacht: dass es allemal gut ist, es zu versuchen.
Bundeskanzler Karl Nehammer
Die deutsche Zeitung „Welt“ hat geschrieben: Nutzt’s nix, schadt’s nix. Ist diese Zusammenfassung für Sie okay?
Das sehe ich gar nicht so. Wir haben die schärfsten Sanktionen gegen die Russische Föderation in der Geschichte der Europäischen Union verhängt. Zum ersten Mal in dieser Geschichte werden Waffen und Munition an eine Kriegspartei geliefert. Das sind alles sehr ernsthafte und dramatische Schritte. Daher finde ich es legitim, alles zu versuchen, damit auch wieder einmal Frieden herrschen kann. Dass da keine Wunder geschehen, war von mir auch so eingeschätzt.
Was sagen Sie zur Behauptung von Peter Pilz, das wäre ein Versuch gewesen, von der Cobra-Affäre abzulenken?
Karl Nehammer greift sich an den Kopf und sagt lange nichts. - Das richtet sich von selbst. Und wenn manche behaupten, ich hätte das gemacht, um mich selbst zu erhöhen, dann finde ich das etwas eigenartig. Das Risiko, das mit dieser Initiative verbunden war, war um vieles größer als der politische Gewinn, den ich daraus schlagen hätte können. Weil überhaupt nicht klar, ob das alles tatsächlich möglich sein würde. Das war eine höchst komplexe Planung und Abfolge.
Wie ist es Ihnen denn gelungen, Putin von einem Treffen zu überzeugen?
Ich möchte festhalten, dass es uns gelungen ist, beide Präsidenten zu treffen. Als erster Regierungschef war ich zuerst im Kriegsgebiet und danach beim Aggressor. Ich habe eine ausgezeichnete außenpolitische Beraterin, Botschafterin Barbara Kaudel-Jensen, sie hat den Hauptteil geleistet. Daneben haben wir, immer in enger Abstimmung mit Außenminister Alexander Schallenberg, die verschiedensten Informationskanäle benutzt. Das läuft auf vielen Ebenen ab.
Wer wusste nichts davon?
Dieser Prozess war so transparent, wie das bei so einem Vorhaben sein kann, ohne das Zustandekommen des Termins zu gefährden. Wir haben auf europäischer Ebene die westlichen Partner ebenso informiert, wie auf nationaler Ebene. Auch mit dem ukrainischen Präsidenten Zelenskij habe ich das vorher telefonisch und auch persönlich in Kiew besprochen.
Stimmt es, dass Paul Ronzheimer von BILD die Putin-Reise geleakt hat?
Ja, das ist richtig. Das war deshalb ein Problem, weil wir einen genauen Zeitpunkt hatten, wann und wie wir die Medien und die Öffentlichkeit informieren. Ich hatte ja am Sonntagabend, nach meiner Rückkehr aus Kiew, noch ein sehr vertrauensvolles Gespräch mit den Chefredakteuren des Landes, die sich alle an die Vereinbarung gehalten hätten.
Apropos BILD-Zeitung: Der ehemalige Chefredakteur Kai Diekmann ist Berater Ihrer Partei, der ÖVP. Warum war er bei Ihren Reisen dabei?
Diekmann hat große Erfahrung mit der Russischen Föderation, er hat Putin viele Male getroffen. Er hat auch eine gute Expertise der Politik in Kiew. Seit ich ÖVP-Obmann bin, berät er die Partei in strategischen und kommunikationstechnischen Fragen. Wenn er etwas für das Bundeskanzleramt macht, dann ohne Honorar. Auch die Reisekosten hat er selbst bezahlt.
Stimmt es, dass Ihre Frau Diekmann vorschlagen hat?
Ja, das stimmt. Sie kennt Diekmann seit mehreren Jahren. Die Entscheidung dafür haben wir aber mit dem gesamten Team getroffen. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber wir sprechen in unserer Beziehung über viele Dinge, und eben auch über Politik. Meine Frau ist jemand mit einer großen politischen Erfahrung und auch eine wichtige Beraterin für mich.
Die ÖVP liegt in Sonntagsumfragen derzeit bei rund 22 Prozent, das sind um 15 Prozentpunkte weniger als bei der letzten Wahl. Wird Ihnen die Ukraine-Russland-Initiative helfen?
Helfen wird mir als designiertem Parteiobmann und damit auch der Volkspartei, dass wir redlich und hart arbeiten und uns nicht scheuen, das Notwendige und Richtige zu tun, Stichwort Parteienfinanzierungsgesetz und Medientransparenzgesetz. Das ist ein Prozess, in dem wir uns bewähren müssen. Mein Ziel ist es, das Vertrauen der Menschen wiederzugewinnen.
Im ÖVP-Korruptionsuntersuchungsausschuss zeigt sich gerade ein anderes Bild und auch in Vorarlberg sorgt eine Inseraten-Affäre für weiteres Misstrauen.
Da muss man differenzieren. Der U-Ausschuss ist ja mit seinem Titel schon von vornherein unterstellend. Wenn Sie als Auskunftsperson diesen Titel als Frage gestellt bekommen, dann würde der Verfahrensrichter sagen, dass das unterstellend ist und Sie müssten die Frage nicht beantworten. Das ist eine Pauschalverurteilung aus parteipolitischen Motiven. Was Vorarlberg betrifft, hat Landeshauptmann und Landesparteiobmann Markus Wallner sofort gehandelt. Das Entscheidende wird sein, dass die Menschen sehen, dass ich es ernst meine, dass sie mir wieder vertrauen. Das braucht sicher Zeit.
Was bedeutet Ostern für Sie?
Es ist für mich ein ganz besonderes Fest. Für die Christenheit bedeutet es ja den Sieg des Lebens über den Tod durch die Auferstehung. Das ist eine zutiefst nahegehende und im wahrsten Sinne des Wortes frohe Botschaft, gerade in Zeiten des Krieges. Ostern in einem so friedlichen und schönen Land wie Österreich zu feiern, ist ein großes Privileg.
Verstecken Sie auch Osternester?
Die Kinder sind schon größer. Jetzt ist ihnen das Ostereierpecken wichtiger.
Wer gewinnt?
Ich jedenfalls nicht. - Lacht. - Die Kinder sind da viel listiger beim Halten des Eis. Das ist alles eine Frage der Position, nicht der Kraft.
Hat sich für Ihre Familie etwas geändert, seit die Geschichte mit Ihren Personenschützern an die Öffentlichkeit gekommen ist?
Für die Kinder ist es jetzt noch schwerer geworden. Das ist auch der Grund, warum ich so emotional reagiert habe. Die Verteidigung meiner eigenen Familie kann und wird für mich nie falsch sein. Eine parlamentarische Anfrage ist für mich überhaupt kein Problem. Dass Behörden ermitteln, ist in einem Rechtsstaat selbstverständlich. Dass aber ein Abgeordneter, der noch dazu Sicherheitssprecher seiner Partei ist, ein anonymes Denunziationsschreiben anfügt, in dem Details über meine Frau und meine Kinder dargestellt werden, das darf nicht passieren. Das gehört sich nicht in der politischen Auseinandersetzung. Weil es dabei nicht zuletzt auch um die Sicherheit meiner Familie geht.
Vom Boxer zum Regierungschef
Geboren am 18. Oktober 1972 in Wien. Ab 2016 Generalsekretär des ÖAAB, ab 2017 Nationalratsabgeordneter und Bezirksparteiobmann der ÖVP Wien-Hietzing, ab 2018 ÖVP-Generalsekretär. Im Jänner 2020 wird er Innenminister, am 6. Dezember 2021 folgt er Sebastian Kurz als Bundeskanzler nach. Der passionierte Boxer ist Oberleutnant beim Bundesheer und war auch Trainer für strategische Kommunikation. Verheiratet mit Kathi Nehammer, der Tochter von Peter Nidetzky („Aktenzeichen XY“), ein Sohn (13) und eine Tochter (11 Jahre alt).
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