Ukrainische Behörden haben seit Beginn des russischen Angriffskrieges eigenen Angaben zufolge bereits mehr als 8600 tote oder gefangene russische Soldaten mithilfe der umstrittenen Gesichtserkennungssoftware Clearview AI untersucht. Die Scans dienten der Identifizierung der Leichen und der Kontaktaufnahme mit Familienangehörigen - eine Praxis, die von westlichen Beobachtern kritisch beurteilt wird.
Einem Bericht der „Washington Post“ zufolge soll die ukrainische IT-Armee, eine freiwillige Truppe von Hackern und Aktivisten, die Identifizierungen genutzt haben, um die Familien von 582 toten Russen zu informieren - unter anderem durch das Verschicken von Fotos ihrer Leichen. Die Ukrainer befürworteten den Einsatz der Gesichtserkennungssoftware des US-amerikanischen Technologieunternehmens Clearview AI „als brutalen, aber effektiven Weg, um Dissens in Russland zu schüren, andere Kämpfer zu entmutigen und das Ende eines verheerenden Krieges zu beschleunigen“, berichtete das Blatt.
Psychologische Kriegsführung?
Einige Militär- und Technologieanalysten befürchten jedoch, dass die Strategie nach hinten losgehen könnte. Die Solidarität des Westens mit der Ukraine mache es verlockend, einen solch radikalen Akt zu unterstützen, der darauf abziele, aus der Trauer der Familie Kapital zu schlagen, zitierte die „Washington Post“ die Londoner Überwachungsforscherin Stephanie Hare. Aber die Kontaktaufnahme mit den Eltern von Soldaten sei „klassische psychologische Kriegsführung“ und könne einen gefährlichen neuen Standard für zukünftige Konflikte setzen.
„Wenn es russische Soldaten wären, die das mit ukrainischen Müttern machen, könnten wir sagen: ‚Oh mein Gott, das ist barbarisch‘“, sagte sie. „Und funktioniert es wirklich? Oder sagen sie: ‚Schaut euch diese gesetzlosen, grausamen Ukrainer an, die unseren Jungs das antun?‘“
Ukraine's IT Army released a video showing Clearview's search in action alongside what appear to be some transcripts of chats with shocked Russian family members. Warning: video is very gory. "They are leaving their dead comrades on the battlefield to rot" https://t.co/B3Ztf2albbpic.twitter.com/ACDElNGgA5
— Drew Harwell (@drewharwell) April 15, 2022
Experten warnen vor dramatischen Verwechslungen
Experten befürchten zudem, dass eine falsche Identifizierung dazu führen könnte, dass der falschen Person mitgeteilt wird, dass ihr Kind gestorben ist. Privacy International, eine Gruppe für digitale Rechte, hat Clearview lautBericht daher aufgefordert, seine Arbeit in der Ukraine einzustellen. „Die möglichen Folgen wären zu grausam, um toleriert zu werden - wie etwa die Verwechslung von Zivilisten mit Soldaten.“
Dienste kostenlos angeboten
Clearview AI hatte Mitte März bekannt gegeben, dass seine Software in der Ukraine zum Einsatz kommt. „Ich freue mich zu bestätigen, dass Clearview AI seine bahnbrechende Gesichtserkennungstechnologie ukrainischen Beamten zur Verfügung gestellt hat, damit sie diese während der Krise, mit der sie konfrontiert sind, nutzen können“, zitierte die britische BBC damals den Clearview-AI-Gründer und -Chef Hoan Ton-That.
In einem Schreiben an die ukrainische Regierung, über das Reuters zuerst berichtete, hatte Ton-That kostenlos die Dienste seiner Software angeboten und darauf verwiesen, dass deren Datenbank größtenteils Gesichter von russischen Social-Media-Seiten enthalte - allen voran Vkontake (VK), das oftmals als das „Facebook Russlands“ bezeichnet wird. Über zwei Milliarden Bilder sollen demnach von dort stammen.
Ehrliche Hilfe oder Profitgier?
Ton-That zufolge könnten sie nützlich sein, um „Eindringlinge“ sowie Leichen zu identifizieren, Fehlinformationen zu bekämpfen oder Familienzusammenführungen von Personen ohne Papiere zu erleichtern. Seinen Angaben zufolge arbeitet die Software präzise - auch in Fällen von schweren „Gesichtsschäden“.
Vorwürfe, sein Unternehmen würde die Arbeit in der Ukraine nutzen, um sich bei Regierungskunden auf der ganzen Welt zu bewerben und „von der Tragödie zu profitieren“, wie Überwachungsforscherin Hare es nannte, weist Clearview-AI-Gründer Ton-That zurück. Das einzige Ziel des Unternehmens sei es, bei der Verteidigung eines belagerten Landes zu helfen, so Ton-That zur „Washington Post“.
Gegenüber der Zeitung räumte er aber auch ein, dass der Krieg dazu beigetragen habe, ein „gutes Beispiel für andere Teile der US-Regierung zu liefern, um zu sehen, wie diese Anwendungsfälle funktionieren“. „Dies ist ein neuer Krieg“, sagte er. Und die Ukrainer seien „sehr kreativ in dem, was sie tun konnten“.
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