Alte Menschen, denen ihr lange vergangenes Leid durch den Ukrainekrieg wieder bewusst wird – ist das nur ein mediales Thema?
Nein, keineswegs. Diese Dynamik erleben wir auf der gerontologischen Psychiatrie derzeit ganz deutlich. Das betrifft einerseits Menschen, die den 2. Weltkrieg als Kinder miterleben mussten, aber auch sehr viele, die vom Jugoslawienkrieg betroffen waren.
Was ist der Auslöser?
Auf jeden Fall Bilder. Oftmals reicht aber schon das Wissen aus, dass wieder Krieg herrscht. Gerade in Jugoslawien haben viele schwerste Misshandlungen, auch sehr schweren sexuellen Missbrauch erlebt. Das betrifft meist Frauen, die leichter Opfer werden.
Bei der Weltkriegsgeneration handelt es sich hingegen um Senioren, die damals Jugendliche oder Kinder waren.
Ja, und da gibt es das Phänomen des „Vergessen des Vergessens“. Die Patienten haben oft ihr ganzes Leben lang schwere Erlebnisse erfolgreich verdrängt, Schlimmes aktiv ausgeblendet. Doch in der Demenz fällt dieser Filter aus, das Verdrängen funktioniert also nicht mehr.
Wie wirkt sich das aus?
Die alten Erlebnisse der Patienten werden aufgrund der Demenz reaktiviert, das bedeutet, dass sie plötzlich wieder mitten drin sind in dem damals Erlebten. Sie hören zum Beispiel ein Läuten, glauben, es ist wieder Fliegeralarm und verkriechen sich unter dem Bett. Solche Kranken sind kaum ansprechbar, man kann nur versuchen, sie abzulenken. Oder zumindest den Fernseher abschalten.
Und wie reagieren Senioren ohne Demenz auf die Flut von verdrängten Erinnerungen?
Mit Panikattacken. Mit ihnen kann man aber als Arzt noch arbeiten.
Stichwort Demenz: Sie warnen, dass da ein gesellschaftlicher Tsunami kommt.
Was viele unterschätzen: Ein Drittel der über 95-Jährigen ist dement. Und diese Altersgruppe wächst derzeit enorm an. Gleichzeitig fehlen uns die Fachärzte. Die Zahl der Demenzerkrankungen hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren verdoppelt, die Anzahl der Betten wurde hingegen reduziert. Wir suchen für unsere Abteilungen dringend Gerontopsychiater, Neurologen und Internisten.
Interview: Christoph Gantner
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