Ein Weg, gepflastert von Leid und Minen, ein Verlust der Heimat - vielleicht für immer. Den Krieg und 2666 Kilometer hat Familie Darsania hinter sich gelassen, doch das Erlebte bleibt auch in Tirol in den Köpfen eingebrannt.
„Ich weiß nicht, ob meine Familie noch lebt“, sagte Sofiya vor knapp zwei Monaten zur „Tiroler Krone“. Es war der Anfang des Krieges in der Ukraine. Sofiya lebt seit sieben Jahren in Innsbruck, ihre Familie lebte in Mariupol, eine Hafenstadt, auf die die Bomben regneten. Die Bilder, die sie aufs Handy bekam, waren schrecklich: vom Keller, von Angst, vom Krieg – bis sie keine Nachrichten mehr bekam, was noch viel schrecklicher war. Stille. Man hörte, dass in Mariupol der Strom weg war, und auch das Wasser. Seit Tagen war der Kontakt bereits abgebrochen, als Sofiya mit der „Krone“ sprach.
Gott sei Dank haben sie es rausgeschafft
Inzwischen ist die Familie in Tirol angekommen. „Gott sei Dank haben sie es aus dieser Hölle namens Mariupol rausgeschafft“, erzählt Sofiya. Was war in der Zeit des Kontaktabbruchs geschehen, wie konnte die Familie flüchten? Sofiyas Schwestern Maka und Kateryna sowie ihre Mutter Marina erzählen die Geschichte ihres langen und gefährlichen Weges nach Tirol, während Sofiya für die „Krone“ dolmetscht.
Gott sei Dank haben sie es aus dieser Hölle namens Mariupol rausgeschafft.
Sofiya Darsaniya
Leben oder Heimat: Eine Entscheidung, die keine ist
Leichen gab es viele. Ihre Familie aber war am Leben. „Wir mussten sie begraben“, erzählen sie, „man konnte sie ja nicht einfach auf der Straße liegen lassen. Unter den Toten war ein dreijähriges Kind. Sie waren zu elft im Keller ihres Hauses, als eine Familie dazu kam, deren Zuhause bombardiert wurde, in deren Garten russische Soldaten standen. Dann kam noch eine Familie, die im neunten Stock wohnte und ebenfalls nun Zuflucht im Keller der Familie Darsania suchte. Je mehr Bomben fielen, desto enger musste man im Keller zusammenrücken, bis man auf den Gang ausweichen musste.“
Schlussendlich seien es 27 Personen gewesen, darunter zwei schwangere Frauen, die sich auf engstem Raum zusammenquetschten. Draußen herrschte Dauerfeuer. Es war am 10. März um 23 Uhr, man versuchte gerade einzuschlafen, als eine Explosion in der Nähe den Keller dermaßen zum Vibrieren gebracht habe, dass es keinen anderen Ausweg mehr gab: Man flüchtete zur Schule, deren Fenster eingeschlagen und deren Dach zerstört war.
Lange Menschenschlangen für Wasser
Das Leben im Krieg ist schwer: Lange Menschenschlangen, um an Wasser zu kommen, kochen über offenem Feuer. Hygiene, Medikamente? Keine. Der Vater ein Diabetiker. Das zwölfjährige Kind bekommt Fieber. An manchen Tagen gab es kein Brot. „Wir werden hier sterben“, dachte sich Sofiyas ältere Schwester, aber die Kinder wollte man irgendwie hinausschaffen. „Nimm sie“, sagte man einem Nachbarn, der noch ein funktionierendes Auto hatte. Ihr eigenes war zerbombt. Die Erwachsenen flüchteten zu Fuß aus den Trümmern, die einmal ihre Heimatstadt gewesen war. Mariupol, eine Hafenstadt, die es nicht mehr gibt.
Auf der Flucht von der Familie getrennt zu werden, ist das Furchtbarste.
Sofiyas ältere Schwester Kateryna
Vom Getrennt-Werden und Sich-Wieder-Finden
Man flüchtete am Strand entlang, weil es sicherer erschien. Der Mutter, Mitte 60, schmerzten die Beine, sie konnte kaum laufen. Ein Auto nahm sie schließlich bis in die nächste Stadt mit. Wie durch ein Wunder fanden sie sich wieder, Strom zum Handys aufladen gab es ja keinen. „Wir waren unter Schock. Wir dachten nicht daran, wie wir uns wiederfinden können. Doch das Schicksal hat uns wieder zusammengeführt“, erzählt die Familie. Man flüchtete ins Landesinnere. Der Krieg war im Zentrum der Ukraine noch nicht angekommen. Von Mariupol nach Ursuf, weiter nach Berdjansk, wo man die Kinder wieder fand. Dann weiter nach Zaporizhzhia.
Viele Leute sind wegen der Minen gestorben.
Sofiyas ältere Schwester Kateryna
Verminte Straßen
Es gab fünf Busse, in die sich viel zu viele Menschen drängten. Die Familie wurde wieder getrennt. „Auf der Flucht von der Familie getrennt zu werden, ist das Furchtbarste“, erzählt die ältere Schwester. Für eine Strecke von 300 Kilometer brauchten die Busse 23 Stunden. Ständig ging der Alarm, ständig musste der Bus halten. Kateryna stand 19 Stunden, Sitzplatz gab es für sie keinen. Dann die Warnung: Die Straße sei vermint. Alle stiegen aus, zwei Busse fuhren – leer bis auf die Busfahrer – parallel voran, alle anderen gingen hinterher. So würde es „zumindest“ nicht sie alle treffen. „Viele Leute sind wegen der Minen gestorben“, erzählt sie.
Keine Minute ohne Trauer, alles erinnert an Heimat
Sofiya lebt seit sieben Jahren in Innsbruck, und so war das Ziel der Familie Tirol. Zurücklassen mussten sie bereits zum zweiten Mal ein gutes Leben. Trotzdem sind sie nicht verbittert, sondern den Tirolern dankbar für alles, was sie geschenkt bekommen. Dennoch weint die Mutter oft. Alles erinnert an die Heimat, erzählt auch die ältere Schwester. Sie denken oft an Mariupol, jeden Tag, jede Minute, jede Sekunde. Albträume haben sie alle.
Das Kind bekommt 39 Fieber und fragt, ob es sterben muss. Die Ärzte auf der Innsbrucker Klinik finden keinen Grund, sagen, es ist psychosomatisch. Das Trauma steht ihnen ins Gesicht geschrieben, reden können sie mit fast keinem, die Sprachbarriere ist zu groß. Die Mutter träumt und betet jeden Tag, dass sie zurück nach Hause kann, nach Mariupol. Es ist ihr einziger Traum. Dem Krieg in der Ukraine sind sie entflohen, den Wunden in ihren Herzen können sie nicht entfliehen.
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