Verzweiflung steigt
Chinas Anti-Covid-Hammer fällt allen auf den Kopf
Millionenstädte als Geisterstädte, weite Bereiche der Industrie abgeschaltet, die Häfen blockiert: Chinas Führung kämpft beinhart gegen die Omikron-Invasion an. Die Null-Covid-Politik hat gute Gründe, aber ist sie nicht eine Zeitbombe? Immer mehr Chinesen wollen dieser Strategie nicht mehr folgen. Die Versorgung der Eingesperrten klappt immer schlechter. Die Verzweiflung wächst.
Herr Yu im Lockdown will zum Arzt, hat leichtes Fieber. „Ich habe nichts zu essen. Ich fühle mich schrecklich“, sagt der ältere Herr in einem dringlichen Telefonat mit seinem Nachbarschaftskomitee. Er habe auch keine Medikamente mehr, klagt Herr Yu. Sein Antrag, medizinisch behandelt oder zur Computertomografie gelassen zu werden, blieb tagelang von höherer Stelle unbeantwortet. „Ist das für die in Ordnung, wenn ich sterbe?“
Ist das für die (Behörden, Anm.) in Ordnung, wenn ich sterbe?
Herr Yu, chinesischer Bürger
Keine medizinische Behandlung
Der Funktionär am anderen Ende der Leitung ist überfordert: „Wir sind machtlos und können nichts daran ändern“, sagt er und beklagt sich über die höheren Stellen. „Die tun nichts für die Alten, die Schwangeren und die Senioren.“ Ein Mitschnitt des Gesprächs geht online, empört Millionen, bis die Zensur es löscht. Im Internet kursieren verzweifelte Schilderungen, dass Alte oder chronisch Kranke keine medizinische Behandlung bekommen hätten und deswegen gestorben seien. Chinas Null-Covid-Strategie schlittert ins Chaos, und die Organisation klappt nicht mehr so, wie es die Führung gern hätte. 400 Millionen Menschen sind landesweit betroffen.
Die Nerven liegen blank. Staatsmedien räumen ein, dass „Zweifel, Angst und Müdigkeit spürbar“ seien. Bewohner beschimpfen weiß vermummte Pandemie-Ordner oder Polizisten, die handgreiflich gegen protestierende Bewohner vorgehen, wie Videos im Internet zeigen. Mit Drohnen werden Wohngebiete aus der Luft überwacht. Hohe Absperrungen und Bauzäune riegeln Häuser hermetisch ab. Roboterhunde, mit plärrendem Megafon aufgeschnallt, laufen durch leeren Straßen: „Tragt Maske, wascht häufig Hände, und messt Fieber!“ So wird es wohl noch Wochen gehen.
Was aus China kommt, wird knapp und auch teurer
Die strikten Einschränkungen durch Chinas Null-Covid-Strategie bremsen die zweitgrößte Volkswirtschaft stärker als erwartet. Die Industrieproduktion fiel im April überraschend um 2,9 Prozent - auch die Konsumausgaben brachen stark ein. Für die globale Wirtschaft wird Chinas Beharren auf der Null-Covid-Strategie ebenfalls zunehmend zur Gefahr.
„USA: 1 Million gestorben, China: 1 Million gerettet“
Durch die Einschränkungen ist der Frachtverkehr landesweit deutlich zurückgegangen. Lieferketten sind unterbrochen. Viele Betriebe mussten die Produktion einstellen oder herunterfahren. Der Containertransport über den größten Hafen der Welt in Schanghai ging stark zurück. Dort stauen sich Frachter aus aller Welt. Chinas Führung verteidigt die Null-Covid-Politik mit dem Argument der Menschenrechte: „Die USA haben eine Million Tote in Kauf genommen, China hat eine Million gerettet“, heißt es in einem Leitartikel der Staatsmedien.
Das könnte sich aber sofort ändern, wenn die Null-Covid-Strategie im Ansturm der Omikron-Variante zusammenbricht. Dann rechnet selbst Peking mit bis zu 1,5 Millionen Todesopfern. Peking hat das Beispiel Hongkong vor Augen: Dort brach Omikron wie ein Tsunami auf eine unzureichend geimpfte Bevölkerung herein mit 9000 Toten. Zu Beginn der Pandemie war China mit seiner Null-Covid-Strategie besser gefahren als viele andere Länder, vor allem im demokratischen Westen, die einen - oft heftig umstrittenen - Mittelweg zwischen radikaler Einschränkung von Kontakten und Erhalt eines möglichst großen Maßes an Freiheit suchten.
Die Null-Covid-Strategie hat jedenfalls starke Auswirkungen auf die ganze Weltwirtschaft. Der prominente chinesische Investor Fred Hu sagte zuletzt der „New York Times“, es sei „höchst an der Zeit“, dass Peking seine Strategie ändere. Die Vorteile der Null-Covid-Strategie würden heute die ökonomischen Kosten nicht mehr rechtfertigen. Internationale europäische und US-Konzerne überlegen schon, Teile ihrer Produktion aus China abzuziehen.
Covid fällt wie Bumerang auf China zurück
Man kann es in Peking drehen, wie man will: China hat die globale Ausbreitung des Covid-19-Virus verursacht – durch einen schweren Fehler des politischen Systems. Egal, ob die Millionenstadt Wuhan der Ursprung der Seuche ist oder nicht: Sie hatte dort schon wochenlang gewütet, während die politische Führung alles daran setzte, die Tatsachen zu vertuschen, und ein Arzt sogar als „Unruhestifter“ zum Schweigen verurteilt wurde, der im Internet die Öffentlichkeit alarmierte. Alles hätte nicht so kommen müssen, hätte nicht das kommunistische System Chinas mindestens ein Monat lang Gegenmaßnahmen verhindert. Die Katastrophe nahm ihren Lauf in die Welt – auf diese „Neue Seidenstraße“ hätte die Welt gern verzichtet.
Normalerweise macht man einen Fehler nur einmal und lernt daraus. China hat es aber fertiggebracht, den gleichen Fehler zweimal zu machen: einmal 2003 bei der SARS-Epidemie und 2019 bei Covid-19. Es ist also offenkundig, dass dieses Verhalten, diese Selbstbeschädigung und Gefährdung anderer, systemimmanent ist für einen totalitären Polizeistaat. In der Gehorsamsleiter will keine untere Ebene schlechte Nachrichten an die nächsthöhere und die wieder an die nächsthöhere weiterleiten. Diktaturen, die sich ihre Erfolgspropaganda von keinen schlechten Nachrichten „verderben“ lassen wollen, können nicht anders handeln. China-Professor Gerd Kaminski, der 2003 die SARS-Epidemie in China selbst erlebt hatte, bekam damals tief in der Provinz vom Leiter der Gesundheitsbehörde zu hören: „Eine atypische Lungenentzündung ist keine Krankheit, die meldepflichtig ist. Daher hatten wir keine Notwendigkeit gesehen, die Öffentlichkeit zu informieren.“
Behörden gefeuert
Bei Covid-19 war die Reaktion der Behörden ähnlich. Noch am 23. Jänner 2020 versuchte man die von Gerüchten irritierte chinesische Öffentlichkeit mit Meldungen zu beruhigen, dass ohnehin Gegenmaßnahmen eingeleitet würden. Die Partei sei immer wachsam. Auch fiel die Reaktion auf das Fehlverhalten von lokalen Parteifunktionären und Beamten im Vergleich zu SARS rascher und gründlicher aus. Die dafür verantwortlichen Stadt- und Provinz-Behörden wurden gefeuert, und jener Arzt, der die Öffentlichkeit alarmiert hatte und in der Zwischenzeit an Covid-19 verstorben war, erhielt eine große Trauerzeremonie.
Omikron brachte Politik an Grenzen
Tatsächlich gelang es, die Seuche abzuwürgen, während die ganze Welt unter Covid und den Gegenmaßnahmen litt. Doch dann kam Omikron und die an ihre Grenzen gestoßene Null-Covid-Politik wird nun zur schweren wirtschaftlichen Selbstbeschädigung Chinas. Und, noch ärger, die Menschen wollen sich nicht mehr einsperren lassen. So viel Ungehorsam hat China schon lange nicht gesehen.
Warum verteidigt die Führung so zäh ihre Null-Covid-Politik? Erstes, weil sie anfangs so erfolgreich war; zweitens, weil es in China keinen (!) Impfzwang gibt und so viele Alte ungeimpft sind. Würde China nur den Covid-Maßnahmen im Rest der Welt folgen, würde allein schon wegen der hohen Bevölkerungszahl das Gesundheitssystem zusammenbrechen. Der selbst ernannte Weltmeister in der Bekämpfung der Pandemie ist in der eigenen Falle gefangen. Wenn Peking jetzt lockerlässt, könnte es eine riesige Infektionswelle auslösen.
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